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An Milena Jesenská
15)
Das waren zumindest zwei entsetzliche Tage. Aber jetzt sehe ich dass
Du ganz unschuldig daran bist, irgendein boshafter Teufel hat alle Deine
Briefe von Donnerstag an zurückgehalten. Freitag bekam ich nur Dein
Telegramm, Samstag nichts, Sonntag nichts, heute 4 Briefe - von Donnerstag
Freitag Samstag. Ich bin zu müde um eigentlich schreiben zu können,
zu müde um aus den 4 Briefen, aus diesem Berg von Verzweiflung, Leid,
Liebe, Gegenliebe gleich herauszufinden was für mich übrig bleibt,
so eigensüchtig ist man wenn man müde ist und man sich zwei Nächte
und Tage verzehrt hat in abscheulichsten Vorstellungen. Aber trotzdem -
und das gehört wieder zu Deiner leben-gebenden Kraft, Mutter Milena
- trotzdem bin ich im Grunde weniger zerrüttet als vielleicht in den
ganzen letzten 7 Jahren, das Dorf-Jahr ausgenommen.
Warum auf mein dringendes Donnerstag-Abend-Telegramm noch keine Antwort
kam, verstehe ich allerdings noch immer nicht. Dann habe ich an Frau Kohler
telegraphiert, auch keine Antwort. Daß ich Deinem Mann schreiben
würde, fürchte nicht, dazu habe ich auch gar nicht viel Lust.
Lust habe ich nur nach Wien zu fahren, aber auch das werde ich nicht tun,
selbst wenn nicht solche Hindernisse wären, wie Deine Ablehnung meiner
Reise, Paßschwierigkeiten, Bureau, Husten, Müdigkeit, Hochzeit
meiner Schwester (Donnerstag). Immerhin, besser wäre es zu fahren
als solche Nachmittage zu verbringen, wie den am Samstag oder Sonntag.
Am Samstag: ich wanderte herum ein wenig mit dem Onkel, ein wenig mit Max
und alle z Stunden ins Bureau um nach der Post zu fragen. Abends war es
besser, ich gierig zu Laurin, er wußte nichts Schlimmes von Dir,
erwähnte Deinen Brief, der mich glücklich machte, telephonierte
an Kisch von der Neuen Freien Presse, der wußte
auch nichts, wollte sich aber, nicht bei Deinem Mann, nach Dir erkundigen
und heute abend wieder telephonieren. So saß ich bei Laurin, hörte
öfters Deinen Namen und war ihm dankbar. Allerdings es ist weder leicht
noch angenehm mit ihm zu reden. Er ist doch wie ein Kind, wie ein nicht
sehr aufgewecktes Kind, ebenso rühmt er sich, lügt, spielt Komödie
und man kommt sich übertrieben schlau und widerlich komödiantisch
vor, wenn man so ruhig dasitzt und zuhört. Besonders da er nicht nur
Kind ist, sondern was Güte Teilnahme Hilfsbereitschaft anlangt ein
großer und sehr ernsthafter Erwachsener ist. Aus diesem Zwiespalt
kommt man nicht heraus und wenn man sich nicht immerfort sagte: "noch
einmal, nur noch einmal will ich Deinen Namen hören" wäre
man längst fortgegangen. Er erzählte auch von seiner Hochzeit
(Dienstag) im gleichen Ton.
Der Sonntag war schlimmer. Eigentlich hatte ich auf den Friedhof gehn wollen
und das wäre das Richtige gewesen, aber ich lag den ganzen Vormittag
im Bett und nachmittag mußte ich zu den Schwiegereltern meiner Schwester,
bei denen ich noch nie gewesen bin. Dann war 6 Uhr. Zurück in die
Anstalt nach einem Telegramm fragen. Nichts. Was jetzt? Den Teaterzettel
nachsehn, denn Jilovský hatte, in seiner Eile ganz flüchtig,
erwähnt, dass Staša montag zu einer Wagneroper
geht. Nun lese ich, dass die Vorstellung um 6 Uhr anfängt und
um 6 Uhr haben wir das Rendezvous. Schlimm. Was jetzt? In die Obstgasse
das Haus ansehn. Es ist still, niemand geht ein und aus, man wartet ein
wenig, auf der Haus-Seite, dann auf der Seite gegenüber, nichts, solche
Häuser sind so viel weiser als die Menschen, die sie anstarren. Und
nun? In das Lucerna-Durchhaus, wo früher einmal eine Auslage
des dobrá Dílo [das Gute Werk] war. Sie ist nicht mehr
dort. Dann also vielleicht zu Staša, was sich ja sehr leicht ausführen
läßt da sie jetzt ganz gewiß nicht zuhause ist. Ein stilles
schönes Haus, ein kleiner Garten dahinter. Vor der Wohnungstür
ein Vorhängeschloß, man kann also ungestraft läuten. Unten
noch ein kleines Gespräch mit der Hausmeisterin zu dem Zweck um "Libešic"
und "Jílovský" auszusprechen, für "Milena"
war leider keine Möglichkeit. Und nun? Jetzt kommt das Dümmste.
Ich gehe ins Cafe Arco, in dem ich schon seit vielen Jahren nicht gewesen
bin, um jemanden zu finden, der Dich kennt. Glücklicherweise war niemand
dort und ich konnte gleich fortgehn. Nicht mehr viele solche Sonntage,
Milena!
F
am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von schreiben
würde bis ihm dankbar.): Die "Ebene" hast Du mißverstanden,
so habe ich es nicht gemeint; nächstens.
am rechten Rand der dritten Briefseite (Beschriftung von
Allerdings bis Zurück): Vielen Dank für die Bilder, aber
Jarmila sieht Dir doch nicht ähnlich, höchstens in irgendeinem
Licht, irgendeinem Schein, der über ihr Gesicht geht wie über
Deines.
am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab in
die Anstalt): Gestern konnte ich nicht schreiben, zu dunkel war mir alles
in Wien.
1] das Dorf-Jahr: Kafkas Aufenthalt in Zürau
1917/18. Vgl. Brief vom [2. Juni 1920], Anm. 1.
2] Kisch von der Neuen Freien Presse: Kafkas Klassenkamerad
Paul Kisch (1883-1944).
3] Wagneroper: "Siegfried", vgl. "Prager
Tagblatt" vom 11. 7. 1920, S. 9.
4] Auslage des dobrá dílo: Auslage
der von Josef Florian und Staša Jílovská gemeinsam herausgegebenen
Buchreihe in der Lucerna-Passage zwischen Vodičkova/Wassergasse und
Štěpáská/Stefansgasse. Vgl. auch 1. Brief vom [9.
Juli 1920], Anm. 2.
Montag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at