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An Milena Jesenská

[Prag, 12. Juli 1920]
Montag
 

15)

Das waren zumindest zwei entsetzliche Tage. Aber jetzt sehe ich dass Du ganz unschuldig daran bist, irgendein boshafter Teufel hat alle Deine Briefe von Donnerstag an zurückgehalten. Freitag bekam ich nur Dein Telegramm, Samstag nichts, Sonntag nichts, heute 4 Briefe - von Donnerstag Freitag Samstag. Ich bin zu müde um eigentlich schreiben zu können, zu müde um aus den 4 Briefen, aus diesem Berg von Verzweiflung, Leid, Liebe, Gegenliebe gleich herauszufinden was für mich übrig bleibt, so eigensüchtig ist man wenn man müde ist und man sich zwei Nächte und Tage verzehrt hat in abscheulichsten Vorstellungen. Aber trotzdem - und das gehört wieder zu Deiner leben-gebenden Kraft, Mutter Milena - trotzdem bin ich im Grunde weniger zerrüttet als vielleicht in den ganzen letzten 7 Jahren, das Dorf-Jahr ausgenommen.

Warum auf mein dringendes Donnerstag-Abend-Telegramm noch keine Antwort kam, verstehe ich allerdings noch immer nicht. Dann habe ich an Frau Kohler telegraphiert, auch keine Antwort. Daß ich Deinem Mann schreiben würde, fürchte nicht, dazu habe ich auch gar nicht viel Lust. Lust habe ich nur nach Wien zu fahren, aber auch das werde ich nicht tun, selbst wenn nicht solche Hindernisse wären, wie Deine Ablehnung meiner Reise, Paßschwierigkeiten, Bureau, Husten, Müdigkeit, Hochzeit meiner Schwester (Donnerstag). Immerhin, besser wäre es zu fahren als solche Nachmittage zu verbringen, wie den am Samstag oder Sonntag. Am Samstag: ich wanderte herum ein wenig mit dem Onkel, ein wenig mit Max und alle z Stunden ins Bureau um nach der Post zu fragen. Abends war es besser, ich gierig zu Laurin, er wußte nichts Schlimmes von Dir, erwähnte Deinen Brief, der mich glücklich machte, telephonierte an Kisch von der Neuen Freien Presse, der wußte auch nichts, wollte sich aber, nicht bei Deinem Mann, nach Dir erkundigen und heute abend wieder telephonieren. So saß ich bei Laurin, hörte öfters Deinen Namen und war ihm dankbar. Allerdings es ist weder leicht noch angenehm mit ihm zu reden. Er ist doch wie ein Kind, wie ein nicht sehr aufgewecktes Kind, ebenso rühmt er sich, lügt, spielt Komödie und man kommt sich übertrieben schlau und widerlich komödiantisch vor, wenn man so ruhig dasitzt und zuhört. Besonders da er nicht nur Kind ist, sondern was Güte Teilnahme Hilfsbereitschaft anlangt ein großer und sehr ernsthafter Erwachsener ist. Aus diesem Zwiespalt kommt man nicht heraus und wenn man sich nicht immerfort sagte: "noch einmal, nur noch einmal will ich Deinen Namen hören" wäre man längst fortgegangen. Er erzählte auch von seiner Hochzeit (Dienstag) im gleichen Ton.

Der Sonntag war schlimmer. Eigentlich hatte ich auf den Friedhof gehn wollen und das wäre das Richtige gewesen, aber ich lag den ganzen Vormittag im Bett und nachmittag mußte ich zu den Schwiegereltern meiner Schwester, bei denen ich noch nie gewesen bin. Dann war 6 Uhr. Zurück in die Anstalt nach einem Telegramm fragen. Nichts. Was jetzt? Den Teaterzettel nachsehn, denn Jilovský hatte, in seiner Eile ganz flüchtig, erwähnt, dass Staša montag zu einer Wagneroper geht. Nun lese ich, dass die Vorstellung um 6 Uhr anfängt und um 6 Uhr haben wir das Rendezvous. Schlimm. Was jetzt? In die Obstgasse das Haus ansehn. Es ist still, niemand geht ein und aus, man wartet ein wenig, auf der Haus-Seite, dann auf der Seite gegenüber, nichts, solche Häuser sind so viel weiser als die Menschen, die sie anstarren. Und nun? In das Lucerna-Durchhaus, wo früher einmal eine Auslage des dobrá Dílo [das Gute Werk] war. Sie ist nicht mehr dort. Dann also vielleicht zu Staša, was sich ja sehr leicht ausführen läßt da sie jetzt ganz gewiß nicht zuhause ist. Ein stilles schönes Haus, ein kleiner Garten dahinter. Vor der Wohnungstür ein Vorhängeschloß, man kann also ungestraft läuten. Unten noch ein kleines Gespräch mit der Hausmeisterin zu dem Zweck um "Libešic" und "Jílovský" auszusprechen, für "Milena" war leider keine Möglichkeit. Und nun? Jetzt kommt das Dümmste. Ich gehe ins Cafe Arco, in dem ich schon seit vielen Jahren nicht gewesen bin, um jemanden zu finden, der Dich kennt. Glücklicherweise war niemand dort und ich konnte gleich fortgehn. Nicht mehr viele solche Sonntage, Milena!

F                   


am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von schreiben würde bis ihm dankbar.): Die "Ebene" hast Du mißverstanden, so habe ich es nicht gemeint; nächstens.


am rechten Rand der dritten Briefseite (Beschriftung von Allerdings bis Zurück): Vielen Dank für die Bilder, aber Jarmila sieht Dir doch nicht ähnlich, höchstens in irgendeinem Licht, irgendeinem Schein, der über ihr Gesicht geht wie über Deines.


am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab in die Anstalt): Gestern konnte ich nicht schreiben, zu dunkel war mir alles in Wien.




1] das Dorf-Jahr: Kafkas Aufenthalt in Zürau 1917/18. Vgl. Brief vom [2. Juni 1920], Anm. 1.


2] Kisch von der Neuen Freien Presse: Kafkas Klassenkamerad Paul Kisch (1883-1944).


3] Wagneroper: "Siegfried", vgl. "Prager Tagblatt" vom 11. 7. 1920, S. 9.


4] Auslage des dobrá dílo: Auslage der von Josef Florian und Staša Jílovská gemeinsam herausgegebenen Buchreihe in der Lucerna-Passage zwischen Vodičkova/Wassergasse und Štěpáská/Stefansgasse. Vgl. auch 1. Brief vom [9. Juli 1920], Anm. 2.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at