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An Milena Jesenská

[Prag, 10. Juli 1920]
Samstag
 

14)

Das ist schlimm, vorgestern kamen die zwei unglücklichen Briefe, gestern nur das Telegramm (es war zwar beruhigend, aber schien doch auch ein wenig zusammengeflickt wie eben Telegramme sind) und heute gar nichts. Und jene Briefe waren doch nicht sehr trostreich für mich, in keiner Hinsicht, und es hieß dort, dass Du gleich wieder schreiben wirst und Du hast nicht geschrieben. Und vorgestern Abend habe ich Dir ein dringendes Telegramm mit dringender Rückantwort geschickt, die Antwort müßte doch auch schon längst hier sein. Ich wiederhole den Text: "Es war das einzig Richtige, sei ruhig, hier bist Du zuhause, Jilovský kommt mit Frau wahrscheinlich in 8 Tagen nach Wien. Wie soll ich Dir Geld anweisen?" Also darauf kam keine Antwort: "Fahre nach Wien" sage ich mir. "Aber Milena will es doch nicht, will es sehr entschieden nicht. Du wärest eine Entscheidung, Dich will sie nicht, sie hat Sorgen und Zweifel, darum will sie Staša" Trotzdem sollte ich fahren, aber ich bin nicht gesund. Ruhig, verhältnismäßig ruhig bin ich zwar, wie ich in den letzten Jahren niemals mehr gehofft hätte, es sein zu können, aber starken Husten habe ich während des Tags und viertelstundenlang in der Nacht. Es handelt sich vielleicht nur um die erste Zeit der Eingewöhnung in Prag und um die Folgen der wilden Meraner Zeit, ehe ich Dich kannte und in Deine Augen gesehen hatte. Wie dunkel Wien geworden ist und war doch so hell 4 Tage lang. Was wird dort für mich gekocht, während ich hier sitze, das Schreiben lasse und das Gesicht in die Hand lege.

F                   


Dann habe ich von meinem Sessel aus durch das offene Fenster in den Regen hinausgeschaut, verschiedene Möglichkeiten fielen mir ein, dass Du vielleicht krank bist, müde bist, im Bett liegst, dass Frau Kohler vermitteln könnte und dann - merkwürdiger Weise als natürlichste, selbstverständlichste Möglichkeit - dass die Tür sich aufmacht und Du dastehst.




1] Frau Kohlen: Die Vertraute Milenas hatte in Wien eine kleine Pension; bei ihr wohnten häufig Prager Freunde des Ehepaares Pollak. Ein Porträt dieser Frau zeichnet Milena in ihrem Artikel "Moje přítelkyně" ["Meine Freundin"] in der "Tribuna", III. Jg., Nr. 22 (27. 1. 1921), S. 1-3; siehe Anhang S. 382-389.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at