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An Milena Jesenská

[Prag, 8. Juli 1920]
Donnerstag früh
 

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Die Straße ist lärmend, auch wird schräg gegenüber gebaut, das Gegenüber ist nicht die russische Kirche sondern Wohnungen voll Menschen, trotzdem - allein in einem Zimmer zu sein, ist vielleicht die Voraussetzung des Lebens, allein in einer Wohnung zu sein eine - um genau zu sein: zeitweilige - Voraussetzung des Glücks (eine Voraussetzung, denn was hülfe mir die Wohnung, wenn ich nicht lebte, nicht eine Heimat hätte in der ich ruhte, etwa zwei helle, blaue, aus unbegreiflicher Gnade lebendige Augen) so aber gehört die Wohnung zum Glück, alles still, das Badezimmer, die Küche, das Vorzimmer, die 3 weiteren Zimmer, nicht wie in den gemeinsamen Wohnungen dieser Lärm, diese Unzucht, diese Inzucht der haltlosen, längst nicht mehr beherrschten Körper Gedanken und Wünsche, wo in allen Winkeln, zwischen allen Möbeln unerlaubte Verhältnisse, unpassende, zufällige Dinge, uneheliche Kinder entstehn und wo es immerfort zugeht nicht wie in Deinen stillen leeren Vorstädten am Sonntag, sondern wie in den wilden überfüllten atemberaubenden Vorstädten an einem ununterbrochenen Samstagabend.


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Die Schwester ist gekommen den langen Weg mir Frühstück zu bringen (was nicht nötig war, denn ich wäre nachhause gegangen) und hat paar Minuten läuten müssen ehe sie mich aus Brief und Weltverlorenheit weckte.

F                 


Die Wohnung gehört mir ja nicht, oft wird auch während des Sommers der Schwager hier wohnen




1] nicht die russische Kirche: Seinem Zimmer in der Wohnung der Eltern (Niklasstraße - Ecke Altstädter Ring) gegenüber lag die Niklaskirche in der Altstadt. Kafka beschreibt diese Aussicht, kurz nachdem er im November 1913 dieses Zimmer bezogen hatte, in einem Brief an Grete Bloch. Vgl. »Briefe an Felice«, S. 479 f.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at