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An Milena Jesenská

[Prag, 6. Juli 1920]
Dienstag abend
 

7)

Sieh, Milena, nun schicke ich selbst Dir den Brief und weiß gar nicht was in ihm steht. Es kam so: Ich hatte ihr versprochen heute nachmittag um ½4 vor ihrem Haus zu sein. Ein Ausflug mit dem Dampfer sollte es werden; nun war ich aber gestern sehr spät ins Bett gekommen und hatte kaum geschlafen, deshalb schrieb ich ihr früh einen Rohrpostbrief: ich müsse nachmittag schlafen und komme erst um 6 Uhr. In meiner Unruhe, die sich mit allen Brief- und Telegramm-Sicherungen nicht zufrieden geben wollte, fügte ich hinzu: "Den Brief nach Wien schicke erst, nachdem wir über ihn gesprochen haben." Nun hatte sie aber halb besinnungslos am frühen Morgen den Brief schon hingeschrieben - sie kann auch nicht sagen, was sie geschrieben hat - und ihn gleich eingeworfen. Als sie meinen Rohrpostbrief bekommt, lauft die Arme voll Angst auf die Hauptpost, erwischt noch irgendwo den Brief, gibt dem Beamten, so glücklich ist sie, ihr ganzes Geld, erst nachher erschrickt sie über die Menge, und bringt mir abend den Brief. Was soll ich nun tun? Meine Hoffnung auf eine baldige vollständige glückliche Lösung ruht ja auf dem Brief und der Wirkung Deiner Antwort, es ist ja, das gebe ich zu, eine unsinnige Hoffnung, aber meine einzige. Wenn ich nun den Brief öffne und vorher lese, kränke ich sie erstens, zweitens bin ich sicher, dass es mir dann nicht möglich sein wird, ihn wegzuschicken. Also gebe ich ihn geschlossen in Deine Hand, ganz und gar, so wie ich mich schon in diese Hand gegeben habe.

Es ist ein wenig trüb in Prag, es ist noch kein Brief gekommen, das Herz ist ein wenig schwer, es ist zwar ganz unmöglich, dass ein Brief schon hier sein könnte, aber erkläre das dem Herzen.

F                   


Ihre Adresse: Julie Wohryzek

                     Prag II

                     Na Směckách 6

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at