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An Milena Jesenská

[Prag, 5. Juli 1920]
Montag
 

5) glaube ich

Natürlich, schlafen sollte ich gehn, ein Uhr nachts ist es, längst hätte ich Dir abends geschrieben, aber Max war hier, auf den ich mich doch sehr gefreut habe und zu dem zu gehen mich bisher das Mädchen und die Sorge, die ich des Mädchens wegen habe, gehindert haben. Bis ½9 war ich mit dem Mädchen beisammen, um 9 hatte sich Max angesagt, dann sind wir bis ½ 1 herumgegangen. Denke, was ich blendend klar in den Briefen an ihn gesagt zu haben glaubte, dass Du Du Du - wieder hört das Schreiben ein wenig auf dass Du es bist, von der ich spreche - er hat es nicht erkannt, erst jetzt hat er den Namen erfahren (ich hatte allerdings nicht grob deutlich geschrieben, weil immerhin die Frau die Briefe lesen konnte). Und jetzt wieder Milena eine meiner Lügen, die zweite: Du fragtest einmal erschreckt, ob die Reiner-Geschichte in [Mile] (ich hatte "Max" schreiben wollen, habe "Milena" geschrieben, den Namen durchgestrichen, verdamme mich nicht deshalb, es tut mir wirklich zum Weinen weh) Maxens Brief als Warnung gemeint sei. Ich hatte nun nicht geradezu geglaubt, dass es eine Warnung sei, aber doch etwas wie eine Musik zum Text, Dir gegenüber aber, als ich Dich so erschrecken sah, leugnete ich [ich mußte aufstehn, eine aus dem gefürchteten Mäusevolk nagt irgendwo] in bewußter Lüge jede Beziehung. Nun stellt sich allerdings heraus, dass wirklich jede Beziehung gefehlt hat, aber das hatte ich nicht gewußt und also gelogen.

Das Mädchen: Heute war es besser, aber um den hohen Preis, dass ich ihr erlaubt habe Dir zu schreiben. Es reut mich sehr. Ein Zeichen meiner Angst um Dich ist das Telegramm das ich heute ans Postamt für Dich geschickt habe ("Mädchen schreibt Dir antworte freundlich und - hier hatte ich eigentlich ein "sehr" einfügen wollen - streng und verlaß mich nicht"). Im Ganzen verlief es heute ruhiger, ich überwand mich, friedlich von Meran zu erzählen, die Stimmung wurde weniger drohend. Aber als wieder die Hauptsache zur Sprache kam - lange Minuten zitterte das Mädchen neben mir auf dem Karlsplatz am ganzen Körper konnte ich doch nur sagen, dass neben Dir alles andere, mag es auch an sich unverändert bleiben, verschwindet und nichts wird. Sie stellte ihre letzte Frage, gegen die ich immer wehrlos gewesen bin, nämlich: "ich kann nicht weggehn, schickst Du mich aber fort, dann gehe ich. Schickst Du mich fort?" (Irgendetwas, vom Hochmut abgesehen, tief abscheuliches steckt darin, dass ich das erzähle, aber ich erzähle es aus Angst um Dich. Was täte ich nicht aus Angst um Dich. Sieh doch was für eine merkwürdige neue Angst.) Ich antwortete: "Ja." Darauf sie: "Ich kann doch nicht gehn." Und nun begann sie zu erzählen, über ihre Kräfte gesprächig, das gute liebe Wesen, dass sie das alles nicht begreife, dass Du Deinen Mann liebst und im Geheimen mit mir sprichst u. s. f. Es liefen um die Wahrheit zu sagen auch böse Worte über Dich mit, für die ich sie hätte schlagen wollen und müssen, aber mußte ich sie nicht sich ausklagen lassen, wenigstens dies? Sie erwähnte, dass sie Dir schreiben will, und ich in meiner Sorge um sie und meinem unendlichen Vertrauen zu Dir erlaubte es, erlaubte es trotzdem ich wußte, dass es mich paar Nächte kosten wird. Gerade dass die Erlaubnis sie beruhigt hat, beunruhigt mich. Sei freundlich und streng, aber mehr streng als freundlich, aber was rede ich, weiß ich denn nicht, dass Du das richtigste schreiben wirst, was zu schreiben ist. Und ist meine Angst, dass sie in ihrer Not etwas Hinterlistiges schreiben und Dich damit gegen mich beeinflussen könnte, nicht tief entwürdigend für Dich? Es ist entwürdigend, aber was soll ich tun, wenn mir statt des Herzens diese Angst im Leibe klopft? Ich hätte es doch nicht erlauben sollen. Nun morgen sehe ich sie wieder, es ist Feiertag (Hus), sie hat mich so sehr um einen Ausflug am Nachmittag gebeten, die ganze übrige Woche, sagte sie, werde ich nicht mehr kommen müssen. Vielleicht kann ich sie noch von dem Brief abbringen, weile sie ihn nicht schon geschrieben hat. Aber, sage ich mir dann: vielleicht will sie wirklich nur Erklärung, vielleicht wird Dein Wort sie gerade durch seine freundliche Strenge beruhigen, vielleicht - so laufen jetzt alle meine Gedankengänge - fällt sie vor Deinem Brief in die Knie.

Franz          


am rechten Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis weh)): Und trotz allem glaube ich manchmal: wenn man durch Glück umkommen kann, dann muß es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben.


am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab in meiner Sorge): Noch ein Grund, warum ich ihr zu schreiben erlaubte. Sie wollte Briefe von Dir an mich sehn. Ich kann sie aber nicht zeigen.




1] das Mädchen: Julie Wohryzek; vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm. 3.


2] Reiner-Geschichte: Josef Reiner; vgl. Brief vom [12. Juni 1920], S. 58 und die Anm. 1 zu diesem Brief.


3] morgen. . . ist Feiertag (Hus): Staatsfeiertag in der Ersten Republik, begangen zur Erinnerung an die Verbrennung des Meisters Jan Hus am 6. Juli 1415 in Konstanz.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at