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An Milenka Jesenská

[Meran, 25. Juni 1920]
 

Ja wir fangen an, uns mißzuverstehn, Milena. Du denkst, ich wollte Dir helfen, aber ich wollte ja mir helfen. Nichts mehr davon. Und um Schlafmittel habe ich Dich auch nicht gebeten so viel ich weiß.


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Otto Groß habe ich kaum gekannt; dass hier aber etwas Wesentliches war das wenigstens die Hand aus dem "Lächerlichen" hinausstreckte, habe ich gemerkt. Die ratlose Stimmung seiner Freunde und Verwandten (Frau, Schwager, selbst noch der rätselhaft schweigende Säugling zwischen den Reisetaschen - er sollte nicht aus dem Bett fallen, wenn er allein war - der schwarzen Kaffee trank, Obst aß, alles aß, was man wollte) erinnerte in etwas an die Stimmung der Anhänger Christi, als sie unter dem Angenagelten standen. Ich kam damals gerade aus Budapest, wohin ich meine Braut begleitet hatte und fuhr dann, ganz verbraucht, nach Prag dem Blutsturz entgegen. Groß, Frau und Schwager fuhren mit dem gleichen Nachtzug. Kuh befangen-unbefangen wie immer sang und lärmte die halbe Nacht, die Frau lehnte in einer Ecke im Schmutz - wir hatten nur Plätze auf dem Korridor - und schlief (äußerst, aber ohne sichtbaren Erfolg von Groß behütet). Groß aber erzählte mir etwas fast die ganze Nacht (bis auf kleine Unterbrechungen, während welcher er sich wahrscheinlich Einspritzungen machte) wenigstens schien es mir so, denn ich verstand eigentlich nicht das Geringste. Er erläuterte seine Lehre an einer Bibelstelle, die ich nicht kannte, aber aus Feigheit und Müdigkeit sagte ich es nicht. Unaufhörlich zerlegte er diese Stelle, unaufhörlich brachte er neues Material, unaufhörlich verlangte er meine Zustimmung. Ich nickte mechanisch, während er mir fast vor den Augen vergieng. Obrigens glaube ich, dass ich es auch bei wachem Verstande nicht begriffen hätte, mein Denken ist kalt und langsam. So gierig die Nacht hin. Es gab aber auch andere Unterbrechungen. Manchmal hielt er sich paar Minuten lang stehend an irgendetwas mit aufgehobenen Armen fest, wurde, ganz entspannt, in der Fahrt durch und durch geschüttelt und schlief dabei. In Prag sah ich ihn dann nur noch flüchtig.


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So zweifellos ist es nicht, dass Urimusikalität ein Unglück ist; zunächst ist es für mich keines, sondern ein Erbstück der Vorfahren (mein väterlicher Großvater war Fleischhauer in einem Dorf bei Strakonitz, ich muß soviel Fleisch nicht essen, als er geschlachtet hat) und gibt mir einigen Halt, ja Verwandtschaft bedeutet für mich viel, dann aber ist es doch ein menschliches Unglück, ähnlich oder gleich dem Nicht-Weinen-, dem Nicht-Schlafen-können. Und musikalische Menschen verstehn bedeutet ja schon fast Unmusikalität.


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Komme ich nach Wien werde ich Dir also ans Postamt telegraphieren oder schreiben. Dienstag oder Mittwoch.

Ich habe gewiß alle Briefe frankiert, merkte man nicht am Kouvert, dass die Marken abgerissen waren?




1] Otto Groß: Kafka war Anfang Juli 1917 auf seiner Rückreise von Budapest über Wien nach Prag zusammen mit dem Psychoanalytiker Otto Groß (1877-1920) und dessen Schwager, dem bekannten Literaten Anton Kuh (1881-1941), gereist. - Milena, die Otto Groß aus dem Literatenkreis im Wiener "Cafá Central" und später im "Cafá Herrenhof" kannte, hatte Kafka wohl vom Tode des Psychoanalytikers berichtet. Der frühe Tod des am 13. Februar 1920 in Berlin Verstorbenen wurde allgemein mit dessen Drogenkonsum in Verbindung gebracht. Vgl. die Todesnachricht im "Prager Tagblatt", 45. Jg., Nr. 45 (22. 2. 1920), S. 5.


2] Fleischhauer in einem Dorf Jakob Kafka war Fleischhauer in Wossek/Osek bei Strakonitz/Strakonice in Südböhmen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at