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An Milena Jesenská

[Meran, 23. Juni 1920]
Mittwoch
 

Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht (Krásná vůbec nikdy, vážně ne, snad někdy hezká) [schön wirklich niemals, gewiß nicht, vielleicht manchmal hübsch]. Hätte ich Dir in der Nacht von Montag auf Dienstag geantwortet, wäre es schrecklich gewesen, ich lag im Bett wie in der Folter, die ganze Nacht antwortete ich Dir, klagte Dir, suchte Dich von mir abzuschrecken, verfluchte mich. (Es lag auch daran, dass ich den Brief spät abend bekam und für die ernsten Worte in der Nähe der Nacht zu aufgeregt und empfänglich war.) Dann fuhr ich früh nach Bozen, mit der elektrischen Bahn nach Klobenstein, 1200 m hoch, atmete, allerdings nicht ganz bei Ver nicht stark. Z. B. in der ersten Volksschulklasse. Unsere Köchin, eine kleine trockene magere spitznasige, wangenhohl, gelblich, aber fest, energisch und überlegen führte mich jeden Morgen in die Schule. Wir wohnten in dem Haus, welches den kleinen Ring vom großen Ring trennt. Da gierig es also zuerst über den Ring, dann in die Teingasse, dann durch eine Art Torwölbung in die Fleischmarktgasse zum Fleischmarkt hinunter. Und nun wiederholte sich jeden Morgen das Gleiche wohl ein Jahr lang. Beim Aus-dem-Haus-treten sagte die Köchin, sie werde dem Lehrer erzählen, wie unartig ich zuhause gewesen bin. Nun war ich ja wahrscheinlich nicht sehr unartig, aber doch trotzig, nichtsnutzig, traurig, böse und es hätte sich daraus wahrscheinlich immer etwas Hübsches für den Lehrer zusammenstellen lassen. Das wußte ich und nahm also die Drohung der Köchin nicht leicht. Doch glaubte ich zunächst, dass der Weg in die Schule ungeheuer lang sei, dass da noch vieles geschehen könne (aus solchem scheinbaren Kinderleichtsinn entwickelt sich allmählich, da ja eben die Wege nicht ungeheuer lang sind, jene Ängstlichkeit und totenaugenhafte Ernsthaftigkeit) auch war ich, wenigstens noch auf dem Altstädter Ring, sehr im Zweifel, ob die Köchin, die zwar Respektsperson aber doch nur eine häusliche war, mit der Welt-Respekts-Person des Lehrers überhaupt zu sprechen wagen würde. Vielleicht sagte ich auch etwas derartiges, dann antwortete die Köchin gewöhnlich kurz mit ihren schmalen unbarmherzigen Lippen, ich müsse es ja nicht glauben, aber sagen werde sie es. Etwa in der Gegend des Eingangs zur Fleischmarktgasse - es hat noch eine kleine historische Bedeutung für mich (in welcher Gegend hast Du als stande, reine fast kalte Luft nahe gegenüber den ersten Dolomitenketten, schrieb dann auf der Rückfahrt für Dich das folgende das ich jetzt abschreibe und finde sogar dieses, wenigstens heute, allzu scharf, so ändern sich die Tage:

Endlich bin ich allein, der Ingenieur ist in Bozen geblieben, ich fahre zurück. Ich habe gar nicht so sehr darunter gelitten, dass sich der Ingenieur und die Gegenden zwischen mich und Dich schoben, denn sogar ich bin nicht bei mir gewesen. Bis 12½ Uhr habe ich gestern den Abend im Schreiben und dann noch mehr Nachdenken mit Dir verbracht, dann war ich kaum mit paar Augenblicken Schlaf bis 6 Uhr im Bett, dann riß ich mich heraus, so wie ein fremder Mensch einen fremden Menschen aus dem Bett reißt und das war gut, denn ich hätte den Tag in Meran trostlos verduselt und verschrieben. Daß mir dieser Ausflug kaum eigentlich bewußt geworden ist und er in meiner Erinnerung nur als ein nicht sehr deutlicher Traum zurückbleiben wird, macht nicht viel. Die Nacht ist so gewesen weil Du mit Deinem Brief (Du hast einen durchdringenden Blick, das wäre aber nicht viel, das Volk läuft ja auf der Gasse herum und lockt den Blick an sich, aber Du hast den Mut dieses Blicks und vor allem die Kraft noch weiterzusehn über diesen Blick hinaus; dieses Weitersehn ist die Hauptsache und das kannst Du.) alle diese alten Teufel, die mit einem Auge schlafen und mit dem andern ihre Gelegenheit abpassen wieder aufgeweckt hast, was zwar fürchterlich ist, Angstschweiß ausbrechen läßt (ich schwöre Dir: vor nichts anderem als vor ihnen, vor den unfaßbaren Mächten) aber es ist gut, ist gesund, man nimmt ihre Revue ab und weiß dass sie da sind. Trotzdem stimmt Deine Erklärung meines "Du mußt aus Wien fort" nicht ganz. Ich habe es nicht leichtsinnig hingeschrieben (sondern unter dem Eindruck jener Geschichte; der Gedanke an solche Zusammenhänge war mir bis dahin gar nicht eigentlich gekommen; ich war damals so außer mir, dass Dein sofortiges Wegfahren aus Wien mir die selbstverständlichste Sache war, aus der allereigennützigsten Überlegung, dass das, was durch meine Schuld Deinen Mann auch nur streift, erst mich eigentlich voll trifft, zehnmal und hundertmal trifft und zerhackt. Es ist ja nicht anders als bei Dir) auch fürchtete ich nicht die greifbare Last (ich verdiene nicht viel, aber es würde gut für uns beide reichen, glaube ich, natürlich wenn nicht Krankheit dazwischen kommt) auch bin ich aufrichtig nach meiner Denk- und Ausdruckskraft (war es auch früher allerdings hast erst Du den wirklichen, helfenden Blick dafür). Was ich fürchte und mit aufgerissenen Augen fürchte und in sinnloser Versunkenheit in Angst (wenn ich so schlafen könnte wie ich in Angst versinke, ich lebte nicht mehr) ist nur diese innere Verschwörung gegen mich (die Du besser aus dem Brief an meinen Vater verstehen wirst, allerdings auch nicht ganz, denn der Brief ist doch zu sehr auf sein Ziel hin konstruiert) die sich etwa darauf gründet, dass ich, der ich im großen Schachspiel noch nicht einmal Bauer eines Bauern bin, weit davon entfernt, jetzt gegen die Spielregeln und zur Verwirrung alles Spiels auch noch den Platz der Königin besetzen will - ich der Bauer des Bauern, also eine Figur, die es gar nicht gibt, die gar nicht mitspielt - und dann vielleicht gleich auch noch den Platz des Königs selbst oder gar das ganze Brett und dass wenn ich das wirklich wollte, es auf andere unmenschlichere Weise geschehen müßte. Darum hat der Vorschlag den ich Dir gemacht habe, für mich eine viel größere Bedeutung als für Dich. Er ist das im Augenblick Zweifellose, Unangekränkelte, unbedingt Beglückende.


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So war es gestern, heute würde ich z. B. sagen, dass ich sicher nach Wien kommen werde, da aber heute heute und morgen morgen ist lasse ich mir noch die Freiheit. Überraschen werde ich Dich keinesfalls, auch nicht nach Donnerstag kommen. Komme ich nach Wien, schreibe ich Dir einen Rohrpostbrief- ich könnte niemanden sehn außer Dir, das weiß ich - vor Dienstag gewiß nicht. Ich käme am Südbahnhof an, weiß noch nicht wo ich wegfahre, würde also beim Südbahnhof wohnen; schade dass ich nicht weiß wo Du Deine Südbahn-Stunden gibst, da könnte ich ja um 5 Uhr dort warten. (Diesen Satz muß ich schon in einem Märchen gelesen haben, irgendwo in der Nähe des andern Satzes: Wenn sie noch nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.) Ich sah heute einen Plan von Wien, einen Augenblick lang erschien es mir unverständlich, dass man eine so große Stadt aufgebaut hat, während Du doch nur ein Zimmer brauchst.

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Vielleicht habe ich auch Posterestante-Briefe mit Pollak adressiert.




1]mit Pollak adressiert: Das heißt mit dem Namen, den Milena seit ihrer Heirat offiziell führte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at