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An Milena Jesenská

[Meran, 20. Juni 1920]
Sonntag
 

Nach einem kleinen Spaziergang, den ich mit Dir gemacht habe: (Wie leicht sich das schreibt: kleiner Spaziergang mit Dir. Man sollte vor Scham aufhören zu schreiben, da es so leicht ist).

Das für mich zunächst Schrecklichste an der Geschichte ist die Überzeugung wie sich die Juden notwendigerweise, so wie Raubtiere morden müssen und entsetzt da sie doch nicht Tiere sind sondern überwach, sich auf Euch stürzen mußten. Diese Vorstellung in ihrer Fülle und Kraft kannst Du nicht haben, alles andere in der Geschichte magst Du besser verstehen als ich. Ich begreife überhaupt nicht wie die Völker ehe es zu solchen Erscheinungen der letzten Zeiten kam auf den Ritualmordgedanken kommen konnten (es war früher höchstens allgemeine Angst und Eifersucht, hier aber ist doch der eindeutige Anblick, hier sieht man "Hilsner" die Tat Schritt für Schritt tun; dass die Jungfrau ihn dabei umarmt, was bedeutet das) allerdings begreife ich auch nicht wie die Völker glauben konnten, dass der Jude morde, ohne sich dabei selbst abzustechen, denn das tut er, aber das braucht freilich die Völker nicht zu kümmern.

Ich übertreibe wieder, alles das sind Übertreibungen. Es sind Übertreibungen, weil sich die Rettung-Suchenden immer auf die Frauen werfen und es ebensogut Christinnen wie Jüdinnen sein können. Und wenn man von Unschuld der Mädchen spricht, so bedeutet das nicht die gewöhnliche körperliche, sondern die Unschuld ihrer Opferung, die nicht minder körperlich ist.

Ich hätte manches zu dem Bericht zu sagen, aber ich schweige lieber, erstens kenne ich nur Haas ein wenig (trotzdem war merkwürdiger Weise seine Gratulation zu meiner Verlobung die herzlichste, die ich bekam) die andern gar nicht, außerdem könntest Du mir vielleicht böse werden wenn ich mich in diese Dir gehörige Sache mit Überlegungen einmische und endlich kann ja hier niemand mehr helfen und es wäre nur ein Spiel der Meinungen.

(Immerfort fürchte ich, dass Du mich im Falle des Mädchens mit dem ich in Karlsbad hätte zusammentreffen sollen und dem ich kurz nach meinem Telegramm nach zwei unklaren Zetteln die Wahrheit so gut es gierig gesagt habe - in ihrem Sinn zwinge ich mich noch immer, nichts zu ihrem Lob zu sagen ungerecht verurteilen könntest, ich muß das umsomehr fürchten, als ich natürlich zu verurteilen bin und sehr schwer, aber durchaus nicht im Kern-Sinn Deiner Erzählung, also vielleicht noch schwerer, wirst Du sagen; nun gut, dann trage ich lieber die schwerere Verurteilung, die zutrifft, als die leichtere, die mir nicht gebührt. Verzeih die undeutliche Rede. Es ist ja auch eine Angelegenheit, die ich mit mir allein abmachen muß, nur in der Ferne will ich dabei Dich sehn dürfen).

Was Max betrifft, so glaube auch ich, dass man vorläufig ihn persönlich kennen muß, um ihn in seiner Gänze beurteilen zu können. Dann aber muß man ihn lieb haben, ihn bewundern, auf ihn stolz sein, allerdings auch Mitleid mit ihm haben. Wer sich nicht so zu ihm verhält (guten Willen vorausgesetzt) kennt ihn nicht.

F.                    




1] "Hilsner": Kafka bezieht sich auf die sogenannte "Hilsner-Affäre": Der Jude Leopold Hilsner wurde der rituellen Ermordung eines christlichen Mädchens beschuldigt, das im April 1899 bei Polna in Böhmen tot aufgefunden worden war. Der Prozeß löste seinerzeit eine Welle des Antisemitismus in Böhmen aus.


2] im Falle des Mädchens: Julie Wohryzek; vgl. Brief vom [31. Mai 1920], Anm. 3.


3] Max: Kafkas Freund Max Brod. Vgl. Brief vom [29. Mai 1920] Anm. 5. In den weiteren Brieftexten bezieht sich der Vorname "Max" immer auf diesen Freund.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at