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An Milena Jesenská
Du mißverstehst mich ein wenig, Milena, ich bin doch fast ganz einig
mit Dir. Im Einzelnen will ich das gar nicht ausführen.
Ob ich nach Wien komme, kann ich heute noch nicht sagen, ich glaube aber,
ich komme nicht. Hatte ich früher viele Gegengründe, hätte
ich heute nur den einen, nämlich dass es über meine geistige
Kraft geht und dann noch vielleicht als fernen Nebengrund, dass es
so für uns alle besser ist. Doch füge ich hinzu dass es
für mich ebenso oder noch mehr über die Kraft gienge, wenn Du
jetzt unter den von Dir beschriebenen Umständen (nechat člověka
čekat) [einen Menschen warten lassen] nach Prag kämest.
Die Notwendigkeit das zu erfahren, was Du mir über die
6 Monate sagen willst, ist keine augenblickliche. Ich bin überzeugt
dass es etwas Schreckliches ist (. . .) [ca. 15 Wärter unleserlich
gemacht], ich bin überzeugt, dass Du schreckliche Dinge erlebt
oder sogar getan hast, ich bin überzeugt, dass ich als Mitlebender
es wahrscheinlich nicht hätte ertragen können (wenn ich auch
noch vor etwa 7 Jahren geradezu alles ertragen konnte) ich bin auch überzeugt,
dass ich es auch künftighin als Mitlebender nicht ertragen würde
- gut, aber was will das alles, sind mir das Wesentliche Deine Erlebnisse
und Taten oder nicht vielmehr Du allein? Dich aber kenne ich, auch ohne
die Erzählung, viel besser als mich, womit ich aber nicht sagen will,
dass ich den Zustand meiner Hände nicht kenne.
Meinem Vorschlag ist Dein Brief nicht entgegengesetzt, im Gegenteil, denn
Du schreibst: nejraději bych utekla třetí cestou která
nevede am k tobě am s ním, někam do samoty.[am liebsten
möchte ich auf einem dritten Weg fortlaufen, der weder zu Dir führt
noch mit ihm, irgendwohin in die Einsamkeit.] Es ist mein Vorschlag, Du
schreibst ihn vielleicht am gleichen Tag wie ich.
Gewiß, wenn die Krankheit in diesem Stadium ist, kannst Du Deinen
Mann auch zeitweilig nicht verlassen, aber es ist doch wie Du schriebst
keine endlose Krankheit, Du schriebst von einigen Monaten nur, ein Monat
und mehr ist schon vorüber nach einem weiteren wirst Du vorläufig
entbehrlich sein. Dann ist ja erst August, spätestens September.
Übrigens gestehe ich: Dein Brief gehört zu denen, die ich nicht
gleich lesen kann und wenn ich ihn diesmal doch viermal hintereinander
hinuntergestürzt habe, so kann ich doch wenigstens nicht gleich meine
Meinung sagen. Immerhin hat, glaube ich, das Obige einige Geltung.
Dein
1] über die 6 Monate: Diese Bemerkung bezieht
sich wahrscheinlich auf Milenas Aufenthalt im Sanatorium Weleslawin/Veleslavín.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at