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An Milena Jesenská

[Meran, 11. Juni 1920]
Freitag
 

Wann wird man endlich die verkehrte Welt ein wenig gerade richten? Bei Tage geht man mit ausgebranntem Kopf herum - es gibt hier überall so schöne Ruinen auf den Bergen und man glaubt, man müsse auch so schön werden - im Bett aber bekommt man statt Schlaf die besten Einfälle. Heute z. B. fiel mir in Ergänzung des gestrigen Vorschlages ein, dass Sie über den Sommer bei Stašasein könnten, von der Sie ja schrieben, dass sie auf dem Lande ist. Gestern schrieb ich die Dummheit, dass das Geld manchen Monat nicht ausreichen würde, das ist Unsinn, es wird immer ausreichen.

Der Dienstag Früh- und Abendbrief bestätigt nur den Wert meines Vorschlags, was ja kein besonderer Zufall ist denn der Wert des Vorschlags muß von allem, durchaus allem bestätigt werden. Ist in dem Vorschlag Hinterlist - wo wäre sie nicht, dieses ungeheuere Tier, das sich nach Bedürfnis ganz klein machen kann - so werde ich sie im Zaume halten, selbst Ihr Mann kann mir darin vertrauen. Ich komme in Übertreibungen. Trotzdem: man kann mir vertrauen. Ich werde Sie gar nicht sehn, nicht jetzt, nicht dann. Sie werden auf dem Lande leben, das Sie lieben. (Darin sind wir ähnlich, wenig bewegtes Land, noch nicht ganz Mittelgebirge ist mir das liebste und Wald und See darin.)

Die Wirkung Ihrer Briefe verkennen Sie, Milena. Die Montagbriefe (jen strach o Vás)[ (nur Angst um Sie] habe ich noch immer nicht ganz gelesen (heute früh habe ich es versucht, es gierig auch schon ein wenig, es war ja auch schon etwas Historie geworden durch meinen Vorschlag, aber zuende lesen konnte ich sie noch nicht), der Dienstagbrief dagegen (und auch die merkwürdige Karte - im Kaffeehaus geschrieben? - auf Ihre Werfelanklage muß ich noch antworten, ich antworte Ihnen ja eigentlich auf gar nichts, Sie antworten viel besser, das tut sehr gut), macht mich heute trotz einer durch den Montagsbrief fast schlaflosen Nacht genug ruhig und zuversichtlich. Gewiß, auch der Dienstagbrief hat seinen Stachel und er schneidet sich seinen Weg durch den Leib, aber Du führst ihn und was wäre - dies ist natürlich nur die Wahrheit eines Augenblicks, eines Glück- und Schmerz-zitternden Augenblicks - was wäre von Dir zu ertragen schwer?

F                   


Ich nehme den Brief noch einmal aus dem Umschlag, hier ist Platz: Bitte sag mir einmal wieder - nicht immer, das will ich gar nicht - sag mir einmal Du.


Sagen Sie bitte wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, bei Gelegenheit Werfel für mich etwas Liebes. - Auf manches aber antworten Sie leider doch nicht z.B. auf die Fragen wegen Ihres Schreibens. [. . .] [ca. 9 Wärter unleserlich gemacht]

Letzthin habe ich wieder von Ihnen geträumt, es war ein großer Traum, ich erinnere mich aber fast an gar nichts. Ich war in Wien, davon weiß ich nichts, dann aber kam ich nach Prag und hatte Ihre Adresse vergessen, nicht nur die Gasse, auch die Stadt, alles, nur der Name Schreiber tauchte mir noch irgendwie auf, aber ich wußte nicht, was ich damit machen sollte. Sie waren mir also vollständig verloren. In meiner Verzweiflung machte ich verschiedene sehr listige Versuche, die aber, ich weiß nicht warum, nicht ausgeführt wurden und von denen mir nur einer erinnerlich ist. Ich schrieb auf ein Couvert: M. Jesenská und darunter "Ich bitte diesen Brief zuzustellen, da sonst die Finanzverwaltung einen ungeheueren Verlust erleidet." Durch diese Drohung hoffte ich alle Hilfsmittel des Staates für Ihre Auffindung in Bewegung zu bringen. Schlau? Lassen Sie sich dadurch nicht gegen mich einnehmen. Nur im Traum bin ich so unheimlich.




1] bei Staša . . .auf dem Lande Milenas Freundin; vgl. Brief vom [29. Mai 1920], Anm. 6.


2] Ich nehme . . . einmal Du. quer im Verhältnis zum umgebenden Brieftext zwischen dem eigentlichen Briefschluß und dem ersten Postskriptum niedergeschrieben


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at