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An Milena Jesenská

[Meran, 4. Juni 1920]
Freitag
 

Heute gegen abend habe ich, eigentlich zum erstenmal, allein einen größeren Spaziergang gemacht, sonst bin ich mit andern Leuten gegangen oder, meistens, zuhause gelegen. Was für ein Land ist das! Du lieber Himmel, Milena, wenn Sie hier wären, und du armer denkunfähiger Verstand! Und dabei wäre es eine Lüge, wenn ich sagte, dass ich Sie vermisse, es ist die vollkommenste, schmerzhafteste Zauberei, Sie sind hier, genau wie ich und stärker; wo ich bin, sind Sie wie ich und stärker. Es ist kein Scherz, manchmal denke ich mir aus, dass Sie, die Sie ja hier sind, mich hier vermissen und fragen: "Wo ist er denn? Schrieb er nicht, dass er in Meran ist?"

F                   


Meine zwei Antwortbriefe haben Sie bekommen?



Quelle: Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Frankfurt am Main, 1986.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at