Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Meran, 4. Juni 1920]
Freitag
 

Zunächst, Milena: was ist das für eine Wohnung, in der Sie Sonntags geschrieben haben? Weitläufig und leer? Sie sind allein? Tag und Nacht?

Das muß allerdings trübselig sein dort allein an einem schönen Sonntagnachmittag einem "fremden Menschen" gegenüber zu sitzen, dessen Gesicht nur "beschriebenes Briefpapier" ist. Wie viel besser habe ich es! Zwar ist mein Zimmer nur klein, aber die wirkliche Milena ist hier, die Ihnen Sonntag offenbar entlaufen ist, und, glauben Sie es, es ist wunderbar bei ihr zu sein.

Sie klagen über Nutzlosigkeit. An andern Tagen war es anders und wird es anders sein. Der eine Satz bei welcher Gelegenheit ist er gesagt worden?) entsetzt Sie, aber er ist doch so deutlich und in diesem Sinn schon unzählige Male gesprochen oder gedacht worden. Der von seinen Teufeln gequälte Mensch rächt sich eben besinnungslos an seinem Nächsten. Sie wollten in solchen Augenblicken eben ganz erlöst haben, ist es nicht gelungen, nennen Sie sich zwecklos. Wer darf so Lästerliches wollen? Niemandem ist das noch gelungen, auch Jesus z. B. nicht. Er konnte nur sagen: "Folge mir nach" und dann dieses große (das ich leider ganz falsch citiere): tue nach meinem Wort und Du wirst sehn dass es nicht das Wort eines Menschen, sondern Gottes Wort ist. Und die Teufel jagte er nur aus den Menschen aus, die ihm folgten. Und auch das nicht dauernd, denn fielen sie von ihm ab, verlor auch er Wirkung und "Zweck". Allerdings - das ist das einzige, was ich Ihnen zugebe - unterlag auch er der Versuchung.

---------

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at