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An Milena Jesenská

[Meran, 3. Juni 1920]
Donnnerstag
 

Sehen Sie Milena, ich liege auf dem Liegestuhl vormittag, nackt, halb in Sonne halb im Schatten, nach einer fast schlaflosen Nacht; wie hätte ich schlafen können, da ich, zu leicht für Schlaf, Sie immerfort umflogen habe und da ich wirklich genau so wie Sie es heute schreiben, entsetzt war über das "was mir in den Schoß gefallen war", so entsetzt im gleichen Sinn, wie man von den Propheten erzählt, die schwache Kinder waren (schon oder noch, das ist ja gleichgültig) und hörten wie die Stimme sie rief und sie waren entsetzt und wollten nicht und stemmten die Füße in den Boden und hatten eine gehirnzerreißende Angst und hatten ja auch früher schon Stimmen gehört und wußten nicht, woher der fürchterliche Klang gerade in diese Stimme kam - war es die Schwäche ihres Ohrs oder die Kraft dieser Stimme - und wußten auch nicht, denn es waren Kinder, dass die Stimme schon gesiegt hatte und einquartiert war gerade durch diese vorausgeschickte ahnungsvolle Angst, die sie vor ihr hatten, womit aber noch nichts für ihr Prophetentum ausgesagt war, denn die Stimme hören viele, aber ob sie ihrer wert sind, ist auch objektiv noch sehr fraglich und der Sicherheit halber von vornherein lieber streng zu verneinen - also so lag ich da als Ihre zwei Briefe kamen.

Eine Eigenheit haben wir glaube ich gemeinsam Milena: so scheu und ängstlich sind wir, jeder Brief fast ist anders, fast jeder erschreckt über den vorhergehenden und noch mehr über den Antwortbrief. Sie sind es nicht von Natur aus, das sieht man leicht, und ich, vielleicht bin sogar ich es nicht von Natur aus, aber fast ist es schon zur Natur geworden, nur in Verzweiflung und höchstens noch im Zorn vergeht es und nicht zu vergessen: in der Angst.

Manchmal habe ich den Eindruck, wir hätten ein Zimmer mit 2 gegenüberliegenden Türen und jeder hält die Klinke seiner Tür und ein Wimperzucken des einen, schon ist der andere hinter seiner Tür und nun braucht der erste nur noch gar ein Wort zu sagen dann hat der zweite schon gewiß die Tür hinter sich geschlossen und ist nicht mehr zu sehn. Er wird ja die Tür wieder öffnen, denn es ist ein Zimmer, das man vielleicht nicht verlassen kann. Wäre nur der Erste nicht genau so wie der Zweite, wäre er ruhig, sähe er scheinbar lieber gar nicht hin zum zweiten, brächte er das Zimmer langsam in Ordnung als sei es ein Zimmer wie jedes andere, statt dessen tut er genau das gleiche bei seiner Tür, manchmal sind sogar beide hinter den Türen und das schöne Zimmer ist leer.

Quälende Mißverständnisse entstehen daraus. Milena, Sie klagen über manche Briefe, man dreht sie nach allen Seiten und es fällt nichts heraus, aber doch sind das, wenn ich nicht irre gerade jene, in denen ich Ihnen so nahe war, so gebändigt im Blut, so bändigend Ihres, so tief im Wald, so ruhend in Ruhe, dass man wirklich nichts anderes sagen will, als etwa, dass durch die Bäume oben der Himmel zu sehen ist, das ist alles und in einer Stunde wiederholt man das Gleiche und es ist allerdings darin "ani jediná slovo která by nebylo velmi obře uváženo" ["nicht ein einziges Wort, das nicht sehr wohlerwogen wäre"]. Es dauert ja auch nicht lange, einen Augenblick höchstens, bald blasen wieder die Trompeten der schlaflosen Nacht.

Bedenken Sie auch Milena, wie ich zu Ihnen komme, welche 38 jährige Reise hinter mir liegt (und da ich Jude bin, eine noch so viel längere) und wenn ich an einer scheinbar zufälligen Wegdrehung Sie sehe, die ich noch nie zu sehn erwartet habe und jetzt so spät erst recht nicht, dann, Milena, kann ich nicht schreien, es schreit auch nichts in mir, ich sage auch nicht 1000 Narrheiten, sie sind nicht in mir (ich sehe von der andern Narrheit ab, die ich überreichlich habe) und dass ich knie erfahre ich vielleicht erst dadurch, dass ich ganz nahe vor meinen Augen Ihre Füße sehe und sie streichle.

Und verlangen Sie nicht Aufrichtigkeit von mir Milena. Niemand kann sie mehr von mir verlangen als ich und doch entgeht mir vieles, gewiß, vielleicht entgeht mir alles. Aber Aufmunterung auf dieser Jagd muntert mich nicht auf, im Gegenteil, ich kann dann keinen Schritt mehr tun, plötzlich wird alles Lüge und die Verfolgten würgen den Jäger. Ich bin auf einem so gefährlichen Weg, Milena. Sie stehn fest bei einem Baum, jung, schön, Ihre Augen strahlen das Leid der Welt nieder. Man spielt šchatule šchatule hejbejte se[ Bäumchen, Bäumchen wechsle dich], ich schleiche im Schatten von einem Baum zum andern, ich bin mitten auf dem Weg, Sie rufen mir zu, machen mich auf Gefahren aufmerksam, wollen mir Mut geben, entsetzen sich über meinen unsicheren Schritt, erinnern mich (mich!) an den Ernst des Spiels - ich kann nicht, ich falle um, ich liege schon. Ich kann nicht gleichzeitig hören auf die schrecklichen Stimmen des Innern und auch auf Sie, aber ich kann hören auf jene und es Ihnen vertrauen, Ihnen, wie niemandem sonst auf der Welt.

Ihr F                   

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at