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An Milena Jesenská
Also die gestern versprochene Erklärung:
Ich will nicht (Milena, helfen Sie mir! Verstehen Sie mehr, als ich sage!)
ich will nicht (das ist kein Stottern) nach Wien kommen, weil ich die Anstrengung
geistig nicht aushalten würde. Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit
ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit. Ich bin so krank
seit den 4, 5 Jahren meiner ersten zwei Verlobungen. (Ich konnte mir die
Fröhlichkeit Ihres letzten Briefes nicht gleich erklären, später
erst fiel mir die Erklärung ein, immer wieder vergesse ich es: Sie
sind ja so jung, vielleicht gar nicht 25 Jahre, erst 23 vielleicht. Ich
bin 37, fast 38, fast ein kleines Menschenalter älter, fast weißhaarig
von den alten Nächten und Kopfschmerzen.) Ich will nicht die lange
Geschichte vor Ihnen ausbreiten mit ihren wahren Wäldern von Einzelnheiten,
vor denen ich mich noch immer fürchte, wie ein Kind nur ohne des Kindes
Vergessenskraft. Gemeinsam war den 3 Verlobungsgeschichten, dass ich
an allem schuld war, ganz unanzweifelbar schuld, beide Mädchen habe
ich unglücklich gemacht undzwar - hier rede ich nur von der ersten,
von der zweiten kann ich nicht sprechen, sie ist empfindlich, jedes Wort
auch das freundlichste wäre die ungeheuerlichste Kränkung für
sie, ich verstehe es - undzwar nur dadurch, dass ich durch sie (die
sich, wenn ich es gewollt hätte, vielleicht geopfert hätte) nicht
dauernd froh, nicht ruhig, nicht entschlossen, nicht heiratsfähig
werden konnte, trotzdem ich es ihr höchst freiwillig immer wieder
zugesichert hatte, trotzdem ich sie manchmal verzweifelt lieb hatte, trotzdem
ich nichts erstrebenswerteres kannte als die Ehe an sich. Fast
5 Jahre habe ich auf sie eingehauen (oder, wenn Sie wollen, auf mich)
nun, glücklicherweise, sie war unzerbrechlich, preussisch jüdische
Mischung, eine starke sieghafte Mischung. Ich war nicht so kräftig,
allerdings hatte sie nur zu leiden, während ich schlug und
litt.
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Zuende, ich kann nichts mehr schreiben, nichts mehr erklären, trotzdem
ich erst am Anfang bin, die Geisteskrankheit beschreiben, die andern Gründe
für den Nichtbesuch anführen sollte, ein Telegramm ist gekommen
"Treffpunkt Karlsbad achten erbitte schriftliche
Verständigung". Ich gestehe, es machte, als ich es aufmachte,
ein fürchterliches Gesicht, trotzdem dahinter das selbstloseste, stillste,
bescheidenste Wesen steht und trotzdem das ganze auf meinen Willen eigentlich
zurückgeht. Das kann ich jetzt nicht begreiflich machen, denn ich
kann mich ja auf eine Beschreibung der Krankheit nicht beziehn. Soviel
ist bisher sicher, dass ich Montag von hier fortfahre, manchmal sehe
ich das Telegramm an und kann es kaum lesen, es ist als wäre da eine
Geheimschrift, die die obere Schrift verwischt und lautet: Fahre über
Wien! ein offenbarer Befehl, aber ohne jede Schrecklichkeit der Befehle.
Ich tue es nicht, schon äußerlich ist es unsinnig, nicht den
kurzen Weg über München zu nehmen, sondern den doppelt so langen
über Linz und dann gar auch noch weiter über Wien. Ich mache
eine Probe: auf dem Balkon ist ein Spatz und erwartet dass ich ihm
vom Tisch aus Brot auf den Balkon werfe, statt dessen werfe ich das Brot
neben mich mitten im Zimmer auf den Boden. Er steht draußen und sieht
dort in dem Halbdunkel die Speise seines Lebens, es lockt maßlos,
er schüttelt sich, er ist mehr hier als dort, aber hier ist das Dunkel
und neben dem Brot ich, die geheime Macht. Trotzdem überhüpft
er die Schwelle, noch paar Sprünge aber mehr wagt er nicht, in einem
plötzlichen Schrecken fliegt er fort. Aber was für Kräfte
in diesem jämmerlichen Vogel stecken, nach einem Weilchen ist er wieder
hier, untersucht die Lage, ich streue noch ein wenig, um es ihm leichter
zu machen und - wenn ich ihn nicht absichtlich-unabsichtlich, so wirken
die geheimen Mächte, durch eine kleine Bewegung vertrieben hätte,
er hätte sich das Brot geholt.
Es ist so, dass mein Urlaub Ende Juni zuendegeht und ich zum Übergang
- auch wird es hier schon sehr heiß, was mich allerdings an sich
nicht stören würde - noch irgendwo anders auf dem Land sein will.
Auch sie wollte fahren, nun sollen wir einander dort treffen, ich bleibe
paar Tage dort und dann vielleicht noch paar Tage in Konstantinsbad bei
meinen Eltern, dann fahre ich nach Prag, überblicke ich diese Reisen
und vergleiche sie mit dem Zustand meines Kopfes, dann ist mir etwa so,
wie es Napoleon hätte sein müssen, wenn er bei Entwerfen der
Pläne für den russischen Feldzug gleichzeitig ganz genau den
Ausgang gewußt hätte.
Als damals Ihr erster Brief kam, ich glaube es war kurz vor der sein sollenden
Hochzeit (deren Pläne z. B. ganz ausschließlich mein Werk gewesen
sind), freute ich mich und zeigte ihr ihn. Später - nein nichts mehr
und diesen Brief zerreiße ich nicht wieder, wir haben ähnliche
Eigenheiten, nur habe ich keinen Ofen zur Hand und fürchte fast aus
Anzeichen, dass ich einmal auf die Rückseite eines solchen angefangenen
Briefes einen Brief an jenes Mädchen geschickt habe.
Aber das alles ist uriwesentlich, ich wäre auch ohne das Telegramm
nicht imstande gewesen nach Wien zu fahren, im Gegenteil, das Telegramm
wirkt eher als Argument für die Fahrt. Ich komme ganz bestimmt nicht,
sollte ich aber doch - es wird nicht geschehn zu meiner schrecklichen Überraschung
in Wien sein, dann brauche ich weder Frühstück noch Abendessen,
sondern eher eine Bahre auf der ich mich ein Weilchen niederlegen kann.
Leben Sie wohl, es wird keine leichte Woche hier sein
Ihr F
Wenn Sie mir einmal ein Wort Karlsbad postlagernd schreiben wollen, nein
erst nach Prag.
Was für ungeheuere Schulen sind das, in denen Sie
unterrichten, 200 Schüler, So Schüler. Einen Fensterplatz in
der letzten Reihe wollte ich haben, eine Stunde lang, dann verzichte ich
auf jede Begegnung mit Ihnen (die allerdings auch ohne das nicht erfolgen
wird) verzichte auf alle Reisen und - genug, dieses weiße Papier,
das kein Ende nehmen will, brennt einem die Augen aus und darum schreibt
man.
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Das war Nachmittag, jetzt geht es gegen 11. Ich habe es so geordnet, wie
es im Augenblick einzig möglich war. Ich habe nach Prag
telegraphiert, dass ich nach Karlsbad nicht kommen kann, erklären
werde ich es mit Zerrüttung, was einerseits sehr wahr ist andererseits
aber nicht sehr konsequent, denn eben wegen dieser Zerrüttung wollte
ich früher nach Karlsbad. So spiele ich mit einem lebendigen Menschen.
Aber ich kann nicht anders, denn in Karlsbad könnte ich weder reden
noch schweigen oder richtiger: ich würde reden selbst wenn ich schwiege,
den ich bin jetzt nichts anderes als ein einziges Wort. Nun fahre aber
zweifellos nicht über Wien, sondern Montag über München,
wohin weiß ich nicht, Karlsbad, Marienbad, jedenfalls allein. Schreiben
werde ich Ihnen vielleicht, Briefe von Ihnen allerdings erst in Prag, erst
in 3 Wochen bekommen.
1] Fast 5 Jahre . . . auf sie eingehauen: Die 1967
veröffentlichten Briefe an Felice Bauer aus den Jahren 1912-1917 sind
Zeugnisse dieses fünfjährigen verzweifelten Kampfes um die Ehe.
In einem dieser Briefe gegen Ende der Korrespondenz kennzeichnet Kafka
diesen Kampf mit den Worten: ". . . ich kann nicht glauben, dass
in irgendeinem Märchen um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft
worden ist als um Dich in mir, seit dem Anfang und immer von neuem und
vielleicht für immer." Vgl. "Briefe an Felice",
S. 730; passim.
2] "Treffpunkt Karlsbad achten": In
diesem Telegramm Julie Wohryzeks ist mit "achten" wahrscheinlich
der 8. Juni als Zeitpunkt für die Zusammenkunft in Karlsbad gemeint.
Kafka wollte also, wie er im weiteren erklärt, von Meran nicht direkt
nach Prag zurückreisen, sondern zuvor noch ein paar Tage gemeinsam
mit Julie in Karlsbad verbringen.
3] jenes Mädchen: Die bereits in vorausgegangenen
Briefen genannte Verlobte Kafkas, Julie Wohryzek (1891-1939). Vgl. Brief
vom [Ende April 1920], Anm. 3. Ihren vollen Namen nennt er nur einmal (im
Brief vom [6. Juli 1920], S. 95), als er Milena ihre Adresse mitteilt.
Vgl. Brief an Max Brod: "Briefe", S. 252, und Klaus Wagenbach:
"Julie Wohryzek, die zweite Verlobte Kafkas" in: "Kafka-Symposion"
(Berlin: Klaus Wagenbach, 1965), S.39-53.
4] ungeheuere Schulen: Milena gab Tschechisch-Unterricht
an Wiener Handels- und Sprachschulen.
5] Prag . . .: von hie ab wegen Papiermangels
am linken Rand dieser letzten Briefseite niedergeschrieben; dahintersteht
eine längere Eintragung, die bis auf die letzten vier Wörter:
Um Ihnen alles nachzumachen. unleserlich gemacht wurde. Vermutlich handelt
es sich um eine schonfrüher niedergeschriebene Randnotiz, die Kafkas
Wunsch, bei Milena in die Schule gehen zu können, weiter ausführt
(die Beschriftung der Seite beginnt bei (lang, dann verzichte ich).
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at