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An Milena Jesenská
Wie ist es, Milena, mit Ihrer Menschenkenntnis? Manchmal schon zweifelte
ich an ihr, z. B. wenn Sie von Werfel schrieben, es sprach ja daraus auch
Liebe und vielleicht nur Liebe, aber doch mißverstehende und wenn
man von allem absieht, was Werfel ist und nur bei
dem Vorwurf der Dicke bleibt (der mir überdies unberechtigt scheint,
Werfel wird mir schöner und liebenswerter
von Jahr zu Jahr, ich sehe ihn allerdings nur flüchtig) wissen Sie
denn nicht, dass nur die Dicken vertrauenswürdig sind? Nur in
diesen starkwandigen Gefäßen wird alles zuendegekocht, nur diese
Kapitalisten des Luftraums sind, soweit es bei Menschen möglich ist,
geschützt vor Sorgen und Wahnsinn und können sich ruhig mit ihrer
Aufgabe beschäftigen und sie allein sind, wie einmal einer sagte,
als eigentliche Erdenbürger auf der ganzen Erde verwendbar, denn im
Norden wärmen sie und im Süden geben sie Schatten. (Man kann
das allerdings auch umkehren, aber es ist dann nicht wahr.) [...] [ca.
40 Wörter unleserlich gemacht]
Dann das Judentum. Sie fragen mich ob ich Jude bin, vielleicht ist das
nur Scherz, vielleicht fragen Sie nur ob ich zu jenem ängstlichen
Judentum gehöre, jedenfalls können Sie als Pragerin in dieser
Hinsicht nicht so harmlos sein wie etwa Mathilde, Heines Frau. (Vielleicht
kennen Sie die Geschichte nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich Ihnen
Wichtigeres zu erzählen, auch schade ich mir irgendwie zweifellos,
nicht durch die Geschichte, aber durch deren Erzählung, aber Sie sollen
doch auch einmal etwas Hübsches von mir hören. Meißner,
ein deutsch-böhmischer Dichter, kein Jude, erzählt es in seinen
Erinnerungen. Mathilde ärgerte ihn immer mit ihren Ausfällen
gegen die Deutschen: die Deutschen seien boshaft, überwitzig, rechthaberisch,
wortklauberisch, aufdringlich, kurz ein unerträgliches Volk. "Sie
kennen doch die Deutschen gar nicht" sagte dann endlich einmal Meißner
"Henry verkehrt doch nur mit deutschen Journalisten und die sind hier in
Paris alle Juden." "Ach" sagte Mathilde "da übertreiben Sie, es mag
ja hie und da unter ihnen ein Jude sein, Z. B. Seiffert -". "Nein" sagte
Meißner "das ist der einzige Nichtjude." "Wie?" sagte Mathilde "Jeitteles
z. B. (es war ein großer starker blonder Mensch) wäre ein Jude?"
"Allerdings" sagte Meißner. "Aber Bamberger?" "Auch." "Aber Arnstein?"
"Ebenso." So gieng es weiter alle Bekannten durch. Schließlich wurde
Mathilde ärgerlich und sagte: "Sie wollen mich ja nur zum Besten halten,
zu guter Letzt werden Sie noch behaupten wollen, auch Kohn sei ein jüdischer
Name, aber Kohn ist doch ein Vetter von Henry und Henry ist Lutheraner."
Dagegen konnte Meißner nichts mehr einwenden.) Jedenfalls scheinen
Sie keine Angst vor dem Judentum zu haben. Das ist auf das letzte oder
vorletzte Judentum unserer Städte bezogen etwas Heldenhaftes und -
alle Schmerzen weit weg! - wenn ein reines Mädchen zu Ihren Verwandten
sagt: "Laß mich und dorthin auszieht, dann ist es mehr als der Auszug
der Jungfrau von Orleans aus ihrem Dorfe.
Sie dürfen dann auch den Juden jene besondere Ängstlichkeit vorwerfen,
trotzdem ein solcher allgemeiner Vorwurf mehr theoretische als praktische
Menschenkenntnis enthält, mehr theoretische, denn erstens trifft der
Vorwurf nach Ihrer früheren Beschreibung Ihren Mann gar nicht, zweitens
trifft er nach meiner Erfahrung die meisten Juden nicht und drittens trifft
er nur Vereinzelte, diese aber sehr stark z. B. mich. Das Merkwürdigste
ist es ja, dass der Vorwurf allgemein nicht paßt. Die unsichere
Stellung der Juden, unsicher in sich, unsicher unter den Menschen, würde
es über alles begreiflich machen, dass sie nur das zu besitzen
glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen den Zähnen
halten, dass ferner nur handgreiflicher Besitz ihnen Recht auf das
Leben gibt und dass sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder
erwerben werden, sondern dass es glückselig für immer von
ihnen fortschwimmt. Von den unwahrscheinlichsten Seiten drohen den Juden
Gefahren oder lassen wir um genauer zu sein die Gefahren weg und sagen:
"drohen ihnen Drohungen." Ein Ihnen naheliegendes Beispiel. Ich hatte zwar
vielleicht versprochen davon zu schweigen (zu einer Zeit, als ich Sie noch
kaum kannte) aber ich habe keine Bedenken es Ihnen gegenüber zu erwähnen,
denn es sagt Ihnen nichts Neues, zeigt Ihnen die Liebe der Verwandten und
Namen und Details sage ich nicht, weil ich sie nicht mehr weiß. Meine jüngste Schwester soll einen Tschechen, einen
Christen heiraten, er sprach einmal von seiner Absicht, eine Jüdin
zu heiraten, mit einer Verwandten von Ihnen, sie sagte: "Nur das nicht,
nur nicht mit Juden sich verbinden! Hören Sie: unsere Milena u. s.
w."
Wohin wollte ich Sie mit dem allen führen? Ich habe mich ein wenig
verirrt, aber es tut nichts, denn Sie sind vielleicht mitgegangen und nun
sind wir beide verirrt. Das ist ja das eigentlich Schöne bei Ihrer
Überzeugung, dass sie treu ist (zanken Sie mich nur wegen des
"treu" aus, Sie können alles, aber zanken können Sie vielleicht
am besten, ich wollte Ihr Schüler sein und immerfort Fehler machen,
um nur immerfort von Ihnen ausgezankt werden zu dürfen; man sitzt
auf der Schulbank, wagt kaum aufzuschauen, Sie sind über einen gebeugt
und immerfort flimmert oben Ihr Zeigefinger, mit dem Sie Aussetzungen machen,
ist es so?) also dass sie "treu" ist und dass ich das Gefühl
habe, als führe ich Sie an der Hand hinter mir durch die unterirdischen,
finstern, niedrigen, häßlichen Gänge der Geschichte, fast
endlos (deshalb sind die Sätze endlos, haben Sie das nicht erkannt?)
um dann beim Ausgang im hellen Tag hoffentlich den Verstand zu haben, zu
verschwinden.
Eine Mahnung für heute abzubrechen, für heute die glückbringende
Hand freizugeben. Morgen schreibe ich wieder und werde erklären, warum
ich, soweit ich für mich bürgen kann, nicht nach
Wien kommen werde und werde mich nicht früher damit beruhigen,
ehe Sie sagen: Er hat recht.
Ihr F
Bitte schreiben Sie die Adresse ein wenig deutlicher, ist Ihr Brief schon
im Umschlag dann ist er schon fast mein Eigentum und Sie sollen fremdes
Eigentum sorgfältiger, mit mehr Verantwortungsgefühl behandeln.
Tak. [So.] Ich habe übrigens auch den Eindruck, ohne
es näher bestimmen zu können, dass ein Brief von mir verloren
gegangen ist. Ängstlichkeit des Juden! Statt zu fürchten, dass
die Briefe gut ankommen!
Jetzt werde ich noch etwas Dummes zur gleichen Sache sagen, d. h. dumm
ist dass ich etwas, was ich für richtig halte, sage, ohne Rücksicht
darauf dass es mir schadet. Und dann redet noch Milena von Ängstlichkeit,
gibt mir einen Stoß vor die Brust oder fargt, was im Tschechischen
an Bewegung und Klang ganz dasselbe ist: jste žid? [Sind Sie Jude?]
Sehen Sie nicht, wie im: "jste" die Faust zurückgezogen wird, um [...]
[ein Wort unleserlich gemacht] Muskelkraft anzusammeln? Und dann im "žid"
den freudigen, unfehlbaren, vorwärts fliegenden Stoß? Solche
Nebenwirkungen hat für das deutsche Ohr die tschechische Sprache öfters.
Sie fragten z. B. einmal, wie es komme, dass ich meinen hiesigen Aufenthalt
von einem Brief abhängig mache und antworteten gleich selbst: nechápu
[verstehe ich nicht]. * Ein fremdartiges Wort im Tschechischen und gar
in Ihrer Sprache, es ist so streng, teilnahmslos, kaltäugig, sparsam
und vor allem nußknackerhaft, dreimal krachen mit dem Wort die Kiefer
aufeinander oder richtiger: die erste Silbe macht einen Versuch die Nuß
zu fassen, es geht nicht, dann reißt die zweite Silbe den Mund ganz
groß auf, nun paßt schon die Nuß hinein und die dritte
Silbe endlich knackt, hören Sie die Zähne? Besonders dieses endgiltige
schließen der Lippen am Schluß verbietet dem andern jede andere
weitere Erklärung, was ja allerdings manchmal recht gut ist z. B.
wenn der andere so schwätzt wie jetzt ich. Worauf der Schwätzer
wieder um Verzeihung bittend sagt: "Man schwätzt doch nur, wenn man
einmal ein wenig froh ist."
Allerdings Brief kam heute von Ihnen nicht. Und was ich zu Schluß
eigentlich sagen wollte, habe ich auch noch nicht gesagt. Nächstens.
Ger, gern würde ich morgen etwas von Ihnen hören, die letzten
Worte die ich von Ihnen vor dem Zuschlagen der Tür - alle zuschlagenden
Türen sind abscheulich - gehört habe, sind schrecklich.
Ihr
F
* Möglich dass die 3 Silben auch die 3 Bewegungen der Apostel
auf der Prager Uhr bedeuten. Ankunft, Sich-zeigen und böser Abgang.
1] Werfel: Der Schriftsteller Franz Werfel (1890-1945),
der sich damals in Wien aufhielt. Er war schon von Prag her mit Ernst Pollak
befreundet, und Milena übersetzte hin und wieder auch Prosa von ihm
ins Tschechische. So erschienen in der literarischen Wochenschrift "Kmen",
IV Jg., Nr. 26 (9. September 1920), S. 304-308: Franz Werfel, "Den
z chlapectví/Fragment" ["Knabentag. Ein Fragment"],
und in "Kmen", IV Jg., Nr. 49 (3. März 1921), S. 581-583:
Franz Werfel, "Blasfemie blázna" ["Blasphemie
eines Irren"].
2] Meißner ... in seinen Erinnerungen: Diese
Geschichte teilt Alfred Meißner (1822-1885) in seinem Buch "Geschichte
meines Lebens." Bd.2 (Teschen: Procháska, 1884), S. 165-168,
mit. Vgl. auch "Briefe", S. 247.
3] Meine jüngste Schwester: Ottilie, genannt
Ottla (1892-1944), heiratete etwa drei Monate später, am 15. Juli
1920 - trotz der Bedenken ihrer Eltern und Verwandten Dr. Josef David (1891-1962),
einen Tschechen katholischer Konfession. Nur ihr Bruder Franz war eindeutig
für diese Verbindung. Vgl. "Briefe an Ottla", S. 81-84.
4] nach Wien kommen: Offenbar Kafkas erste Reaktion
auf den Vorschlag Milenas, sie in Wien zu besuchen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at