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An Milena Jesenská

[Meran, 30. Mai 1920]
 

Wie ist es, Milena, mit Ihrer Menschenkenntnis? Manchmal schon zweifelte ich an ihr, z. B. wenn Sie von Werfel schrieben, es sprach ja daraus auch Liebe und vielleicht nur Liebe, aber doch mißverstehende und wenn man von allem absieht, was Werfel ist und nur bei dem Vorwurf der Dicke bleibt (der mir überdies unberechtigt scheint, Werfel wird mir schöner und liebenswerter von Jahr zu Jahr, ich sehe ihn allerdings nur flüchtig) wissen Sie denn nicht, dass nur die Dicken vertrauenswürdig sind? Nur in diesen starkwandigen Gefäßen wird alles zuendegekocht, nur diese Kapitalisten des Luftraums sind, soweit es bei Menschen möglich ist, geschützt vor Sorgen und Wahnsinn und können sich ruhig mit ihrer Aufgabe beschäftigen und sie allein sind, wie einmal einer sagte, als eigentliche Erdenbürger auf der ganzen Erde verwendbar, denn im Norden wärmen sie und im Süden geben sie Schatten. (Man kann das allerdings auch umkehren, aber es ist dann nicht wahr.) [...] [ca. 40 Wörter unleserlich gemacht]

Dann das Judentum. Sie fragen mich ob ich Jude bin, vielleicht ist das nur Scherz, vielleicht fragen Sie nur ob ich zu jenem ängstlichen Judentum gehöre, jedenfalls können Sie als Pragerin in dieser Hinsicht nicht so harmlos sein wie etwa Mathilde, Heines Frau. (Vielleicht kennen Sie die Geschichte nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich Ihnen Wichtigeres zu erzählen, auch schade ich mir irgendwie zweifellos, nicht durch die Geschichte, aber durch deren Erzählung, aber Sie sollen doch auch einmal etwas Hübsches von mir hören. Meißner, ein deutsch-böhmischer Dichter, kein Jude, erzählt es in seinen Erinnerungen. Mathilde ärgerte ihn immer mit ihren Ausfällen gegen die Deutschen: die Deutschen seien boshaft, überwitzig, rechthaberisch, wortklauberisch, aufdringlich, kurz ein unerträgliches Volk. "Sie kennen doch die Deutschen gar nicht" sagte dann endlich einmal Meißner "Henry verkehrt doch nur mit deutschen Journalisten und die sind hier in Paris alle Juden." "Ach" sagte Mathilde "da übertreiben Sie, es mag ja hie und da unter ihnen ein Jude sein, Z. B. Seiffert -". "Nein" sagte Meißner "das ist der einzige Nichtjude." "Wie?" sagte Mathilde "Jeitteles z. B. (es war ein großer starker blonder Mensch) wäre ein Jude?" "Allerdings" sagte Meißner. "Aber Bamberger?" "Auch." "Aber Arnstein?" "Ebenso." So gieng es weiter alle Bekannten durch. Schließlich wurde Mathilde ärgerlich und sagte: "Sie wollen mich ja nur zum Besten halten, zu guter Letzt werden Sie noch behaupten wollen, auch Kohn sei ein jüdischer Name, aber Kohn ist doch ein Vetter von Henry und Henry ist Lutheraner." Dagegen konnte Meißner nichts mehr einwenden.) Jedenfalls scheinen Sie keine Angst vor dem Judentum zu haben. Das ist auf das letzte oder vorletzte Judentum unserer Städte bezogen etwas Heldenhaftes und - alle Schmerzen weit weg! - wenn ein reines Mädchen zu Ihren Verwandten sagt: "Laß mich und dorthin auszieht, dann ist es mehr als der Auszug der Jungfrau von Orleans aus ihrem Dorfe.

Sie dürfen dann auch den Juden jene besondere Ängstlichkeit vorwerfen, trotzdem ein solcher allgemeiner Vorwurf mehr theoretische als praktische Menschenkenntnis enthält, mehr theoretische, denn erstens trifft der Vorwurf nach Ihrer früheren Beschreibung Ihren Mann gar nicht, zweitens trifft er nach meiner Erfahrung die meisten Juden nicht und drittens trifft er nur Vereinzelte, diese aber sehr stark z. B. mich. Das Merkwürdigste ist es ja, dass der Vorwurf allgemein nicht paßt. Die unsichere Stellung der Juden, unsicher in sich, unsicher unter den Menschen, würde es über alles begreiflich machen, dass sie nur das zu besitzen glauben dürfen, was sie in der Hand oder zwischen den Zähnen halten, dass ferner nur handgreiflicher Besitz ihnen Recht auf das Leben gibt und dass sie, was sie einmal verloren haben, niemals wieder erwerben werden, sondern dass es glückselig für immer von ihnen fortschwimmt. Von den unwahrscheinlichsten Seiten drohen den Juden Gefahren oder lassen wir um genauer zu sein die Gefahren weg und sagen: "drohen ihnen Drohungen." Ein Ihnen naheliegendes Beispiel. Ich hatte zwar vielleicht versprochen davon zu schweigen (zu einer Zeit, als ich Sie noch kaum kannte) aber ich habe keine Bedenken es Ihnen gegenüber zu erwähnen, denn es sagt Ihnen nichts Neues, zeigt Ihnen die Liebe der Verwandten und Namen und Details sage ich nicht, weil ich sie nicht mehr weiß. Meine jüngste Schwester soll einen Tschechen, einen Christen heiraten, er sprach einmal von seiner Absicht, eine Jüdin zu heiraten, mit einer Verwandten von Ihnen, sie sagte: "Nur das nicht, nur nicht mit Juden sich verbinden! Hören Sie: unsere Milena u. s. w."

Wohin wollte ich Sie mit dem allen führen? Ich habe mich ein wenig verirrt, aber es tut nichts, denn Sie sind vielleicht mitgegangen und nun sind wir beide verirrt. Das ist ja das eigentlich Schöne bei Ihrer Überzeugung, dass sie treu ist (zanken Sie mich nur wegen des "treu" aus, Sie können alles, aber zanken können Sie vielleicht am besten, ich wollte Ihr Schüler sein und immerfort Fehler machen, um nur immerfort von Ihnen ausgezankt werden zu dürfen; man sitzt auf der Schulbank, wagt kaum aufzuschauen, Sie sind über einen gebeugt und immerfort flimmert oben Ihr Zeigefinger, mit dem Sie Aussetzungen machen, ist es so?) also dass sie "treu" ist und dass ich das Gefühl habe, als führe ich Sie an der Hand hinter mir durch die unterirdischen, finstern, niedrigen, häßlichen Gänge der Geschichte, fast endlos (deshalb sind die Sätze endlos, haben Sie das nicht erkannt?) um dann beim Ausgang im hellen Tag hoffentlich den Verstand zu haben, zu verschwinden.

Eine Mahnung für heute abzubrechen, für heute die glückbringende Hand freizugeben. Morgen schreibe ich wieder und werde erklären, warum ich, soweit ich für mich bürgen kann, nicht nach Wien kommen werde und werde mich nicht früher damit beruhigen, ehe Sie sagen: Er hat recht.

                 Ihr F


Bitte schreiben Sie die Adresse ein wenig deutlicher, ist Ihr Brief schon im Umschlag dann ist er schon fast mein Eigentum und Sie sollen fremdes Eigentum sorgfältiger, mit mehr Verantwortungsgefühl behandeln. Tak. [So.] Ich habe übrigens auch den Eindruck, ohne es näher bestimmen zu können, dass ein Brief von mir verloren gegangen ist. Ängstlichkeit des Juden! Statt zu fürchten, dass die Briefe gut ankommen!

Jetzt werde ich noch etwas Dummes zur gleichen Sache sagen, d. h. dumm ist dass ich etwas, was ich für richtig halte, sage, ohne Rücksicht darauf dass es mir schadet. Und dann redet noch Milena von Ängstlichkeit, gibt mir einen Stoß vor die Brust oder fargt, was im Tschechischen an Bewegung und Klang ganz dasselbe ist: jste žid? [Sind Sie Jude?] Sehen Sie nicht, wie im: "jste" die Faust zurückgezogen wird, um [...] [ein Wort unleserlich gemacht] Muskelkraft anzusammeln? Und dann im "žid" den freudigen, unfehlbaren, vorwärts fliegenden Stoß? Solche Nebenwirkungen hat für das deutsche Ohr die tschechische Sprache öfters. Sie fragten z. B. einmal, wie es komme, dass ich meinen hiesigen Aufenthalt von einem Brief abhängig mache und antworteten gleich selbst: nechápu [verstehe ich nicht]. * Ein fremdartiges Wort im Tschechischen und gar in Ihrer Sprache, es ist so streng, teilnahmslos, kaltäugig, sparsam und vor allem nußknackerhaft, dreimal krachen mit dem Wort die Kiefer aufeinander oder richtiger: die erste Silbe macht einen Versuch die Nuß zu fassen, es geht nicht, dann reißt die zweite Silbe den Mund ganz groß auf, nun paßt schon die Nuß hinein und die dritte Silbe endlich knackt, hören Sie die Zähne? Besonders dieses endgiltige schließen der Lippen am Schluß verbietet dem andern jede andere weitere Erklärung, was ja allerdings manchmal recht gut ist z. B. wenn der andere so schwätzt wie jetzt ich. Worauf der Schwätzer wieder um Verzeihung bittend sagt: "Man schwätzt doch nur, wenn man einmal ein wenig froh ist."

Allerdings Brief kam heute von Ihnen nicht. Und was ich zu Schluß eigentlich sagen wollte, habe ich auch noch nicht gesagt. Nächstens. Ger, gern würde ich morgen etwas von Ihnen hören, die letzten Worte die ich von Ihnen vor dem Zuschlagen der Tür - alle zuschlagenden Türen sind abscheulich - gehört habe, sind schrecklich.

                   Ihr F


* Möglich dass die 3 Silben auch die 3 Bewegungen der Apostel auf der Prager Uhr bedeuten. Ankunft, Sich-zeigen und böser Abgang.




1] Werfel: Der Schriftsteller Franz Werfel (1890-1945), der sich damals in Wien aufhielt. Er war schon von Prag her mit Ernst Pollak befreundet, und Milena übersetzte hin und wieder auch Prosa von ihm ins Tschechische. So erschienen in der literarischen Wochenschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 26 (9. September 1920), S. 304-308: Franz Werfel, "Den z chlapectví/Fragment" ["Knabentag. Ein Fragment"], und in "Kmen", IV Jg., Nr. 49 (3. März 1921), S. 581-583: Franz Werfel, "Blasfemie blázna" ["Blasphemie eines Irren"].


2] Meißner ... in seinen Erinnerungen: Diese Geschichte teilt Alfred Meißner (1822-1885) in seinem Buch "Geschichte meines Lebens." Bd.2 (Teschen: Procháska, 1884), S. 165-168, mit. Vgl. auch "Briefe", S. 247.


3] Meine jüngste Schwester: Ottilie, genannt Ottla (1892-1944), heiratete etwa drei Monate später, am 15. Juli 1920 - trotz der Bedenken ihrer Eltern und Verwandten Dr. Josef David (1891-1962), einen Tschechen katholischer Konfession. Nur ihr Bruder Franz war eindeutig für diese Verbindung. Vgl. "Briefe an Ottla", S. 81-84.


4] nach Wien kommen: Offenbar Kafkas erste Reaktion auf den Vorschlag Milenas, sie in Wien zu besuchen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at