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An Milena Jesenská
Liebe Frau Milena, der Tag ist so kurz, mit Ihnen und sonst nur mit ein
paar Kleinigkeiten ist er verbracht und ist zu Ende. Kaum dass ein
Weilchen Zeit bleibt an die wirkliche Milena zu schreiben, da die noch
wirklichere den ganzen Tag hier war, im Zimmer, auf dem Balkon, in den
Wolken.
Woher kommt die Frische, die Laune, die Unbekümmertheit in Ihrem letzten
Brief? Hat sich etwas geändert? Oder täusche ich mich und helfen
die Prosastücke dabei mit? Oder beherrschen Sie sich so und damit
auch die Dinge? Was ist es?
Ihr Brief beginnt richterlich, ich meine das im Ernst. Und Sie haben recht
mit dem Vorwurf "či ne tak docela pravdu" ["oder nicht so ganz recht"]
so wie Sie im Grunde recht hatten hinsichtlich des "dobře míněno"
["gut gemeint"]. Es ist ja selbstverständlich. Hätte ich voll
und dauernd die Sorge so wie ich es geschrieben habe, ich hätte es
über alle Hindernisse hinweg auf dem Liegestuhl nicht ausgehalten
und wäre einen Tag später in Ihrem Zimmer gestanden. Die einzige
Probe auf die Wahrhaftigkeit, alles andere sind Reden, dieses mit eingeschlossen.
Oder Berufungen auf das Grundgefühl, dieses aber ist stumm und hat
die Hände im Schooß.
Wie kommt es, dass Sie die lächerlichen Leute, die welche Sie
beschreiben (mit Liebe und deshalb zauberhaft beschreiben) dann den, welcher
fragt und viele andere noch nicht satt haben. Sie haben doch zu urteilen,
die Frau urteilt doch am Ende. (Die Sage von Paris verdunkelt das ein wenig,
aber auch Paris urteilt nur darüber, welcher Göttin Schlußurteil
das stärkste ist.) Es käme ja nicht auf die Lächerlichkeiten
an, es könnten nur Lächerlichkeiten des Augenblicks sein, die
dann im Ganzen ernst und gut werden, ist es diese Hoffnung, die Sie bei
diesen Menschen hält? Wer kann sagen, dass er die geheimen Gedanken
der Richterin kennt, aber ich habe den Eindruck, dass Sie die Lächerlichkeiten
als solche verzeihen, verstehn, lieben und durch ihre Liebe adeln. Während
doch diese Lächerlichkeiten nichts anderes sind als das Zick-Zack-Laufen
der Hunde, während der Herr querdurch geht, nicht gerade mitten durch,
sondern genau dort, wo der Weg führt. Aber es wird trotzdem ein Sinn
in ihrer Liebe sein, das glaube ich fest (nur fragen und es sonderbar finden,
muß ich.) und es fällt mir, um eine Möglichkeit dessen
zu bekräftigen, ein Ausspruch eines Beamten aus meiner Anstalt ein.
Vor einigen Jahren war ich viel im Seelentränker (manas) [kleiner
Kahn]auf der Moldau, ich ruderte hinauf und fuhr dann ganz ausgestreckt
mit der Strömung hinunter, unter den Brücken durch. Wegen meiner
Magerkeit mag das von den Brücken aus sehr komisch ausgesehen haben.
Jener Beamte, der mich eben so einmal von der Brücke sah, faßte
seinen Eindruck, nachdem er das Komische genügend hervorgehoben hatte,
so zusammen: Es hätte so ausgesehen, wie vor dem Jüngsten Gericht.
Es wäre wie jener Augenblick gewesen, da die Sargdeckel schon abgehoben
waren, die Toten aber noch stillagen.
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Einen kleinen Ausflug habe ich gemacht (nicht jenen großen, den ich
erwähnt habe und der nicht zustande kam) und war fast drei Tage fast
unfähig vor (einer nicht unangenehmen) Müdigkeit etwas zu tun,
selbst zu schreiben, nur gelesen habe ich, den Brief, die
Aufsätze, öfters, in der Meinung, dass solche Prosa
natürlich nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern eine Art Wegzeiger
auf dem Weg zu einem Menschen, auf einem Weg, auf dem man immer glücklicher
weitergeht, bis man in einem hellen Augenblick erkennt, dass man ja
gar nicht weiter kommt, sondern nur in seinem eigenen Labyrinth noch umherläuft,
nur aufgeregter, verwirrter als sonst. Aber jedenfalls: das ist keine gewöhnliche
Schreiberin, die das geschrieben hat. Ich habe danach zu Ihrem Schreiben
fast so viel Vertrauen wie zu Ihnen selbst. Ich kenne (bei meiner geringen
Kenntnis) im Tschechischen nur eine Sprachmusik, die der Božena
Nemcová, hier ist eine andere Musik, aber jener verwandt an
Entschlossenheit, Leidenschaft, Lieblichkeit und vor allem einer hellsichtigen
Klugheit. Sollten das erst die letzten Jahre hervorgerufen haben? Schrieben
Sie auch früher? Sie können natürlich sagen, dass ich
lächerlich voreingenommen bin und Sie haben auch recht, gewiß
bin ich voreingenommen, aber voreingenommen nur durch das, was ich nicht
erst in den (übrigen ungleichen, stellenweise durch die Zeitung schädlich
beeinflußten) Stücken gefunden, sondern wiedergefunden habe.
Die Minderwertigkeit meines Urteils können Sie aber gleich daran erkennen,
dass ich, durch 2 Stellen verführt, auch den zerschnittenen
Modeaufsatz für Ihre Arbeit halte. Sehr gern würde ich mir
die Ausschnitte lassen, um sie wenigstens noch meiner Schwester zu zeigen,
aber da Sie sie gleich brauchen lege ich sie bei, auch sehe ich die Rechenoperationen
am Rande.
Ihren Mann habe ich wohl anders beurteilt. Er schien mir in den Kaffeehauskreisen
der verläßlichste, verständigste, ruhigste, fast übertrieben
väterlich, allerdings auch undurchsichtig, aber nicht so, dass
das Vorige dadurch aufgehoben worden wäre. Respekt hatte ich immer
vor ihm, zur weiteren Kenntnis hatte ich weder Gelegenheit noch Fähigkeit,
aber Freunde, besonders Max Brod hatten eine hohe Meinung
von ihm, das war mir dann immer gegenwärtig, wenn ich an ihn dachte.
Besonders gefiel mir zu einer Zeit seine Eigenheit in jedem Kaffeehaus
am Abend einmal antelephoniert zu werden. Da saß wohl jemand statt
zu schlafen beim Apparat, dämmerte hin, den Kopf auf der Rückenlehne
und schreckte von Zeit zu Zeit auf um zu telephonieren. Ein Zustand, den
ich so gut verstehe, dass ich vielleicht nur deshalb davon scheibe.
Im übrigen gebe ich Staša und ihm recht;
allem was mir unerreichbar ist, gebe ich recht, nur wenn niemand zusieht,
gebe ich im Geheimen Staša mehr Recht
Ihr
FranzK
Was meinen Sie? kann ich noch bis Sonntag einen Brief bekommen? Möglich
wäre es schon. Aber es ist unsinnig, diese Lust an Briefen. Genügt
nicht ein einziger, genügt nicht ein Wissen? Gewiß genügt
es, aber trotzdem lehnt man sich weit zurück und trinkt die Briefe
und weiß nichts als dass man nicht aufhören will zu trinken.
Erklären Sie das, Milena, Lehrerin!
1] die Aufsätze: Gemeint sind Milenas Aufsätze.
Vgl. 2. Brief vom [Mai 1920], Anm. 2.
2] Božena Nemcová: Die große tschechische
Erzählerin, deren berühmtesten Roman "Babicka" [Die
Großmutter] (1885) Kafka etwa 1902 kennenlernte und deren Briefe
er im Herbst 1917 in einer Auswahl im tschechischen Original las. Vgl.
"Briefe" [22. Sept. 1917], S. 170.
3] zerschnittenen Modeaufsatz: Kafka täuscht
sich wahrscheinlich nicht: Milena schrieb regelmäßig Modeaufsätze,
und zwar sowohl für die "Tribuna" als auch für die
"Národní listy".
4] Kaffeehauskreis: Bezieht sich auf die erste Begegnung
in Prag; Kafka erwähnte sie schon zuvor. Vgl. 2. Brief vom [April
1920], S. 5.
5] Max Brod: (1884-1968), der Erzähler und
Kritiker, Kafkas langjähriger Freund und engster Vertrauter.
6] Staša: Staša Jílovská,
geb. Procházková (1898-1955), Mitschülerin und Freundin
Milenas am Mädchengymnasium Minerva, kam aus Libeschitz/Libšic,
einer Ortschaft an der Moldau nördlich von Prag. Sie wirkte als Obersetzerin,
Herausgeberin und Journalistin.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at