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An Milena Jesenská

[Meran, 29. Mai 1920]
 

Liebe Frau Milena, der Tag ist so kurz, mit Ihnen und sonst nur mit ein paar Kleinigkeiten ist er verbracht und ist zu Ende. Kaum dass ein Weilchen Zeit bleibt an die wirkliche Milena zu schreiben, da die noch wirklichere den ganzen Tag hier war, im Zimmer, auf dem Balkon, in den Wolken.

Woher kommt die Frische, die Laune, die Unbekümmertheit in Ihrem letzten Brief? Hat sich etwas geändert? Oder täusche ich mich und helfen die Prosastücke dabei mit? Oder beherrschen Sie sich so und damit auch die Dinge? Was ist es?

Ihr Brief beginnt richterlich, ich meine das im Ernst. Und Sie haben recht mit dem Vorwurf "či ne tak docela pravdu" ["oder nicht so ganz recht"] so wie Sie im Grunde recht hatten hinsichtlich des "dobře míněno" ["gut gemeint"]. Es ist ja selbstverständlich. Hätte ich voll und dauernd die Sorge so wie ich es geschrieben habe, ich hätte es über alle Hindernisse hinweg auf dem Liegestuhl nicht ausgehalten und wäre einen Tag später in Ihrem Zimmer gestanden. Die einzige Probe auf die Wahrhaftigkeit, alles andere sind Reden, dieses mit eingeschlossen. Oder Berufungen auf das Grundgefühl, dieses aber ist stumm und hat die Hände im Schooß.

Wie kommt es, dass Sie die lächerlichen Leute, die welche Sie beschreiben (mit Liebe und deshalb zauberhaft beschreiben) dann den, welcher fragt und viele andere noch nicht satt haben. Sie haben doch zu urteilen, die Frau urteilt doch am Ende. (Die Sage von Paris verdunkelt das ein wenig, aber auch Paris urteilt nur darüber, welcher Göttin Schlußurteil das stärkste ist.) Es käme ja nicht auf die Lächerlichkeiten an, es könnten nur Lächerlichkeiten des Augenblicks sein, die dann im Ganzen ernst und gut werden, ist es diese Hoffnung, die Sie bei diesen Menschen hält? Wer kann sagen, dass er die geheimen Gedanken der Richterin kennt, aber ich habe den Eindruck, dass Sie die Lächerlichkeiten als solche verzeihen, verstehn, lieben und durch ihre Liebe adeln. Während doch diese Lächerlichkeiten nichts anderes sind als das Zick-Zack-Laufen der Hunde, während der Herr querdurch geht, nicht gerade mitten durch, sondern genau dort, wo der Weg führt. Aber es wird trotzdem ein Sinn in ihrer Liebe sein, das glaube ich fest (nur fragen und es sonderbar finden, muß ich.) und es fällt mir, um eine Möglichkeit dessen zu bekräftigen, ein Ausspruch eines Beamten aus meiner Anstalt ein. Vor einigen Jahren war ich viel im Seelentränker (manas) [kleiner Kahn]auf der Moldau, ich ruderte hinauf und fuhr dann ganz ausgestreckt mit der Strömung hinunter, unter den Brücken durch. Wegen meiner Magerkeit mag das von den Brücken aus sehr komisch ausgesehen haben. Jener Beamte, der mich eben so einmal von der Brücke sah, faßte seinen Eindruck, nachdem er das Komische genügend hervorgehoben hatte, so zusammen: Es hätte so ausgesehen, wie vor dem Jüngsten Gericht. Es wäre wie jener Augenblick gewesen, da die Sargdeckel schon abgehoben waren, die Toten aber noch stillagen.


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Einen kleinen Ausflug habe ich gemacht (nicht jenen großen, den ich erwähnt habe und der nicht zustande kam) und war fast drei Tage fast unfähig vor (einer nicht unangenehmen) Müdigkeit etwas zu tun, selbst zu schreiben, nur gelesen habe ich, den Brief, die Aufsätze, öfters, in der Meinung, dass solche Prosa natürlich nicht um ihrer selbst willen da ist, sondern eine Art Wegzeiger auf dem Weg zu einem Menschen, auf einem Weg, auf dem man immer glücklicher weitergeht, bis man in einem hellen Augenblick erkennt, dass man ja gar nicht weiter kommt, sondern nur in seinem eigenen Labyrinth noch umherläuft, nur aufgeregter, verwirrter als sonst. Aber jedenfalls: das ist keine gewöhnliche Schreiberin, die das geschrieben hat. Ich habe danach zu Ihrem Schreiben fast so viel Vertrauen wie zu Ihnen selbst. Ich kenne (bei meiner geringen Kenntnis) im Tschechischen nur eine Sprachmusik, die der Božena Nemcová, hier ist eine andere Musik, aber jener verwandt an Entschlossenheit, Leidenschaft, Lieblichkeit und vor allem einer hellsichtigen Klugheit. Sollten das erst die letzten Jahre hervorgerufen haben? Schrieben Sie auch früher? Sie können natürlich sagen, dass ich lächerlich voreingenommen bin und Sie haben auch recht, gewiß bin ich voreingenommen, aber voreingenommen nur durch das, was ich nicht erst in den (übrigen ungleichen, stellenweise durch die Zeitung schädlich beeinflußten) Stücken gefunden, sondern wiedergefunden habe. Die Minderwertigkeit meines Urteils können Sie aber gleich daran erkennen, dass ich, durch 2 Stellen verführt, auch den zerschnittenen Modeaufsatz für Ihre Arbeit halte. Sehr gern würde ich mir die Ausschnitte lassen, um sie wenigstens noch meiner Schwester zu zeigen, aber da Sie sie gleich brauchen lege ich sie bei, auch sehe ich die Rechenoperationen am Rande.

Ihren Mann habe ich wohl anders beurteilt. Er schien mir in den Kaffeehauskreisen der verläßlichste, verständigste, ruhigste, fast übertrieben väterlich, allerdings auch undurchsichtig, aber nicht so, dass das Vorige dadurch aufgehoben worden wäre. Respekt hatte ich immer vor ihm, zur weiteren Kenntnis hatte ich weder Gelegenheit noch Fähigkeit, aber Freunde, besonders Max Brod hatten eine hohe Meinung von ihm, das war mir dann immer gegenwärtig, wenn ich an ihn dachte. Besonders gefiel mir zu einer Zeit seine Eigenheit in jedem Kaffeehaus am Abend einmal antelephoniert zu werden. Da saß wohl jemand statt zu schlafen beim Apparat, dämmerte hin, den Kopf auf der Rückenlehne und schreckte von Zeit zu Zeit auf um zu telephonieren. Ein Zustand, den ich so gut verstehe, dass ich vielleicht nur deshalb davon scheibe.

Im übrigen gebe ich Staša und ihm recht; allem was mir unerreichbar ist, gebe ich recht, nur wenn niemand zusieht, gebe ich im Geheimen Staša mehr Recht

                   Ihr FranzK


Was meinen Sie? kann ich noch bis Sonntag einen Brief bekommen? Möglich wäre es schon. Aber es ist unsinnig, diese Lust an Briefen. Genügt nicht ein einziger, genügt nicht ein Wissen? Gewiß genügt es, aber trotzdem lehnt man sich weit zurück und trinkt die Briefe und weiß nichts als dass man nicht aufhören will zu trinken. Erklären Sie das, Milena, Lehrerin!




1] die Aufsätze: Gemeint sind Milenas Aufsätze. Vgl. 2. Brief vom [Mai 1920], Anm. 2.


2] Božena Nemcová: Die große tschechische Erzählerin, deren berühmtesten Roman "Babicka" [Die Großmutter] (1885) Kafka etwa 1902 kennenlernte und deren Briefe er im Herbst 1917 in einer Auswahl im tschechischen Original las. Vgl. "Briefe" [22. Sept. 1917], S. 170.


3] zerschnittenen Modeaufsatz: Kafka täuscht sich wahrscheinlich nicht: Milena schrieb regelmäßig Modeaufsätze, und zwar sowohl für die "Tribuna" als auch für die "Národní listy".


4] Kaffeehauskreis: Bezieht sich auf die erste Begegnung in Prag; Kafka erwähnte sie schon zuvor. Vgl. 2. Brief vom [April 1920], S. 5.


5] Max Brod: (1884-1968), der Erzähler und Kritiker, Kafkas langjähriger Freund und engster Vertrauter.


6] Staša: Staša Jílovská, geb. Procházková (1898-1955), Mitschülerin und Freundin Milenas am Mädchengymnasium Minerva, kam aus Libeschitz/Libšic, einer Ortschaft an der Moldau nördlich von Prag. Sie wirkte als Obersetzerin, Herausgeberin und Journalistin.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at