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An Milena Jesenská

[Meran, April/Mai 1920]
 

Liebe Frau Milena,

zunächst, damit Sie es nicht etwa ohne meinen Willen aus meinen Briefen herauslesen: ich bin seit etwa 14 Tagen in einer sich immer noch verstärkenden Schlaflosigkeit, grundsätzlich nehme ich es nicht schlimm, solche Zeiten kommen und gehn und haben immer einige Ursachen (nach Bädeker kann es lächerlicherweise auch die Meraner Luft sein) mehr als sie brauchen, selbst wenn diese Ursachen manchmal kaum sichtbar sind, jedenfalls machen sie einen aber stumpf wie einen Klotz und dabei unruhig wie ein Waldtier.

Eine Genugtuung aber habe ich. Sie haben ruhig geschlafen, zwar noch "merkwürdig", zwar war noch gestern ein "Außer-Fassung-sein", aber doch ruhig geschlafen. Wenn der Schlaf also in der Nacht an mir vorübergeht, kenne ich seinen Weg und nehme es hin. Es wäre übrigens auch sonst dumm sich aufzulehnen, der Schlaf ist das unschuldigste Wesen und der schlaflose Mensch das schuldigste.

Und diesem schlaflosen Menschen danken Sie in ihrem letzten Brief. Wenn ein Fremder ohne Kenntnis der Sache das lesen würde, müßte er denken: "Was für ein Mensch! In diesem Fall scheint er Berge versetzt zu haben." Unterdessen hat er gar nichts getan, kein Finger (außer dem Schreibefinger) gerührt, nährt sich von Milch und guten Dingen, ohne immer (wenn auch oft) "Tee und Äpfel" vor sich zu sehn und läßt im übrigen die Dinge ihren Gang gehn und die Berge auf ihren Plätzen. Kennen Sie die Geschichte von Dostojewskis erstem Erfolg? Es ist eine Geschichte die sehr viel zusammenfaßt und die ich überdies nur aus Bequemlichkeit wegen des großen Namens citiere, denn eine Geschichte von nebenan oder noch näher hätte die gleiche Bedeutung. Übrigens kenne ich die Geschichte nur schon ungenau, gar die Namen. Dostojewski schrieb seinen ersten Roman "Arme Leute", er lebte damals mit einem befreundeten Literaten Grigoriew. Der sah zwar monatelang auf dem Tisch die vielen beschriebenen Blätter, bekam aber das Manuscript erst, als der Roman fertig war. Er las ihn, war entzückt und trug ihn, ohne Dostochewski etwas zu sagen, zu dem damals berühmten Kritiker Nekrassow. In der Nacht darauf um 3 Uhr läutete es an Dostojewskis Tür. Es sind Grigoriew und Nekrassow, sie dringen ins Zimmer, umarmen und küssen Dostojewski, Nekrassow, der ihn bisher nicht gekannt hat, nennt ihn die Hoffnung Rußlands, sie verbringen ein, zwei Stunden mit Gesprächen, die hauptsächlich den Roman betreffen, erst gegen Morgen nehmen sie Abschied. Dostojewski, der diese Nacht immer die glücklichste seines Lebens genannt hat, lehnt am Fenster, sieht ihnen nach, kann sich nicht fassen und fängt zu weinen an. Sein Grundgefühl hierbei, dass er, ich weiß nicht mehr wo, beschrieben hat, war etwa: "Diese herrlichen Menschen! Wie gut und edel sie sind! Und wie gemein ich bin! Wenn sie in mich sehen könnten! Wenn ich es ihnen nur sage, so glauben sie es nicht." dass sich dann Dostojewski auch noch vornahm, ihnen nachzueifern, ist nur ein Schnörkel, ist nur noch das letzte Wort, dass die unbesiegbare Jugend haben muß, und gehört nicht mehr zu meiner Geschichte, die also zu Ende ist. Merken Sie liebe Frau Milena das Geheimnisvolle, vom Verstand nicht zu durchdringende dieser Geschichte? Es ist, glaube ich, dieses: Grigoriew und Nekrassow waren, soweit man allgemein davon sprechen kann, gewiß nicht edler als Dostojewski, aber nun lassen sie den allgemeinen Überblick, den ja auch Dostojewski in dieser Nacht nicht verlangte und der im Einzelfall nichts nützt, hören Sie nur auf Dostojewski und sie werden überzeugt sein, dass Grigoriew und Nekrassow wirklich herrlich waren, Dostojewski unrein, gemein ohne Ende, dass er natürlich Grigoriew und Nekrassow niemals auch nur von der Ferne erreichen wird, von einem Abzahlen ihrer ungeheueren, unverdienten Wohltat wird erst recht niemals die Rede sein. Man sieht sie förmlich vom Fenster aus, wie sie sich entfernen und damit ihre Unnahbarkeit andeuten. - Leider wird die Bedeutung der Geschichte durch den großen Namen Dostojewskis verwischt.

Wohin hat mich meine Schlaflosigkeit geführt? Gewiß zu nichts, das nicht sehr gut gemeint wäre.

                 Ihr FranzK




1] Literaten Grigoriew [gemeint ist Grigorowitsch]: Die von Kafka im folgenden wiedererzählte Begebenheit teilt D. W. Grigorowitsch in seinen "Erinnerungen an Dostojewski" mit. Sie sind abgedruckt im Anhang des Bandes F. M. Dostojewski, "Briefe. Mit Porträts, Faksimiles und Ansichten". Übers. von Alexander Eliasberg (München: R. Piper, 1914), S. 233-241. Kafka besaß diesen Band in seiner Bibliothek.

Dostojewski selbst beschreibt diese Begebenheit in seinem Tagebuch. Vergleicht man Dostojewskis Beschreibung mit ihrer Wiedergabe im Brief Kafkas, so zeigt sich, wie eigenwillig Kafka die Situation des Dichters gegenüber seinen Bewunderern interpretiert. Dostojewski gibt seine Gedanken nach dem Abschied seiner Besucher, die ihm eine gute Nacht gewünscht hatten, folgendermaßen wieder: "Als ob ich danach hätte schlafen können? Welch ein Entzücken das war, - solch ein Erfolg! Doch vor allem - das Gefühl war mir teuer, ich weiß noch genau: "Ein anderer hat Erfolg, nun, man lobt ihn, begegnet ihm, man beglückwünscht; aber die hier kamen doch mit Tränen in den Augen hergelaufen, um vier Uhr morgens, um mich aufzuwecken, denn "das ist höher als Schlaf! . . . Ach, - wie ist das schön!" Das war es, was ich damals dachte, wo hätte ich da schlafen können!" Vgl. F. M. Dostojewski, "Autobiographische Schriften", in: "Sämtliche Werke." Unter Mitarbeiterschaft Dmitri Mereschkowskis hrsg. von Moeller van den Bruck, 2. Abt., 11. Bd. (München: R. Piper, 1919), S. 374.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at