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An Milena Jesenská
Liebe Frau Milena, Sie mühn sich mit der Übersetzung
inmitten der trüben Wiener Welt. Es ist irgendwie rührend und
beschämend für mich. Von Wolff dürften
Sie wohl schon einen Brief bekommen haben, wenigstens schrieb er mir schon
vor längerer Zeit von einem solchen Brief. Eine Novelle
"Mörder" die in einem Katalog angezeigt gewesen sein
sollte, habe ich nicht geschrieben, es ist ein Mißverständnis;
da sie aber die beste sein soll, mag es doch auch wieder richtig sein.
Nach Ihrem letzten und vorletzten Brief scheinen Unruhe und Sorge Sie ganz
und endgiltig freigegeben zu haben, das bezieht sich wohl auch auf Ihren
Mann, wie sehr wünsche ich es Ihnen beiden. Ich erinnere mich
an einen Sonntag-nachmittag vor Jahren, ich schlich auf dem Franzensquai
an der Hauswand hin und traf ihren Mann, der auch nicht viel großartiger
mir entgegenkam, zwei Kopfschmerzen-Fachleute, jeder allerdings in seiner
ganz andern Art. Ich weiß nicht mehr, ob wir dann miteinander weitergiengen
oder aneinander vorüber, der Unterschied zwischen diesen beiden Möglichkeiten
dürfte nicht sehr groß gewesen sein. Aber das ist vergangen
und soll tief vergangen bleiben. Ist es schön bei ihnen zuhause?
Herzliche
Grüße
Ihres
Kafka
1] Übersetzung: Milena arbeitete an ihrer Übersetzung
von Kafkas Erzählung "Der Heizer", die am 22. April 1920
in der Zeitschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 6, S. 61-72, erschien;
möglicherweise hatte sie aber auch schon mit der Übersetzung
einer Auswahl von Stücken der "Betrachtung" begonnen.
2] Von Wolff... einen Brief: Es ging hier vermutlich
um die Zusage Kurt Wolffs, dass sie die in seinem Verlag erschienenen
Texte Kafkas ins Tschechische übertragen dürfe.
3] Eine Novelle "Mörder": Offenbar
ein Mißverständnis; Milena bezog sich vermutlich auf Kafkas
Erzählung "Der Mord", die im Almanach "Die neue
Dichtung" (Leipzig: Kurt Wolff, 1918), S. 72-76, erschienen war.
4] Ihren Mann: Ernst Pollak (1886-1947) - ab 1938
gebrauchte er die tschechisierte Schreibung seines Namens: Polák
- war seit März 1918 mit Milena verheiratet.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at