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An M. E.

[Prag, Anfang April 1920]
 

Liebe Minze,

das Bild ist prachtvoll, 500 Kleopatren wert, es hat mir viel Freude gemacht. Die nachdenklichen (übrigens ein wenig ungleichen) Augen, der nachdenkliche Mund, die nachdenklichen Wangen, alles denkt nach, es gibt ja auch so viel nachzudenken in dieser merkwürdigen Welt. Als ich ein Kind war, hatten wir zuhause eine kleine Sammlung Bildchen Shakespeare'scher Frauen, eine, ich glaube es war Porcia, hat mir immer besonders gut gefallen, das Bild erinnert mich an die längst Vergessene, sie hatte auch kurze Haare.

Morgen fahre ich nach Meran. Daß ich allein fahre ist entgegen Ihrer Meinung (die eigentlich keine Meinung ist, sondern die Äußerung eines guten Herzens) das Beste daran, allerdings ist hier auch das Beste noch lange nicht gut.

Aus Meran werde ich Ihnen schreiben. Außer dem Bild ist das Schönste in Ihrem Brief die Nachricht, dass Sie auf Ahlem noch nicht verzichtet haben. Vielleicht erklärt sich Ihr Gesichtsausdruck auf dem Bild auch dadurch, dass die Augen von Teplitz weg in die Böhm.-Sächsische Schweiz gerichtet sind, denn das Bildchen scheint ja für die Reiselegitimation bestimmt gewesen zu sein.

Alles Gute

Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at