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An M. E.

[Prag, Februar 1920]
 

Liebe Minze, zunächst also bin ich glücklich mit Ihnen, dass Sie in eine Schule kommen. Die Schwierigkeiten in einer Schule angenommen zu werden haben Sie übertrieben, ich meine: sich selbst gegenüber auch, aber nun nimmt es doch einen ganz besonders guten Ausgang, wenn Sie in diese Schule kommen. Erstens kommt die Anregung von Ihrem Onkel, also aus der Familie, das gibt doch gute Stimmung, dann ist die Empfehlung des Dr. Ziegler in der Schule wahrscheinlich nicht ohne Bedeutung und schließlich ist es doch - das nehme ich nämlich an - eine jüdische Schule, also besonders wohltätig für das im Augenblick ein wenig haltlose Kind (eine Benennung übrigens, die mehr Schmeichelei als sonstiges ist).

Also so war es in Karlsbad? Nun freilich. Was aber das "ganz hübsche Gesicht" betrifft, so habe ich es kaum gesehn. Jugend ist natürlich immer schön, man träumt von der Zukunft und erregt in den andern die Träume oder vielmehr man ist selbst ein Traum, wie sollte das nicht schön sein. Aber das ist doch eine Schönheit, die aller Jugend gemeinsam ist und die man sich persönlich anzueignen kein Recht hat. Mit dem "ganz hübschen Gesicht" aber meinen Sie etwas anderes und das habe ich nicht bemerkt. Die Frisur und die Schlangenarmbewegungen sind mir zwar aufgefallen, aber das war doch nur halb putzig, halb komisch, halb (Minze steht nämlich außerhalb der Naturgesetze und hat 3 Hälften) sogar unhübsch, in 2 Tagen wäre es vergessen gewesen. Aber dieses von ihr so verächtlich behandelte "ansonsten" stellte sich allmählich als etwas Wesentlicheres heraus.

Die mir drohenden Unterstreichungen des Sich-jung-fühlen-sollens treffen mich, Minze, nicht. Ich klage ja nicht darüber, dass ich mich alt fühle, eher über das Gegenteil oder besser überhaupt nicht. Sie wissen doch: alte Augen werden fernsichtig und über Mangel der Fernsicht sprach ich.

Nach Meran werde ich doch kaum fahren, es ist ein wenig zu teuer, vielleicht fahre ich in die Bayerischen Alpen. Mein Kopf hat, glaube ich, den Norden lieber, meine Lunge den Süden. Da aber gewöhnlich die Lunge sich opfert, wenn es dem Kopf zu arg wird, so hat allmählich auch der Kopf aus einer Art Erkenntlichkeit Verlangen nach Süden bekommen.

Was die Bilder betrifft, so lassen wir es bitte, Minze, dabei bleiben, schon deshalb, weil man im Dunkel (ich meine: wenn man einander nicht sieht,) einander besser hört. Und wir wollen einander gut hören. Deshalb wird es auch viel besser sein, wenn wir einander jetzt in Prag nicht sehn, weder absichtlich noch zufällig, das ist mein Ernst.

Aber von der Aufnahme in die Schule erfahre ich, nicht wahr, als einer der ersten. Das wird eine große Ehrung für mich sein.

Mit herzlichen Grüßen Ihr

Kafka




Dr Ziegler : Rabbiner der Gemeinde Karlsbad, bekannter Prediger und religiöser Schriftsteller.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at