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An M. E.

[Prag, Januar/Februar 1920]
 

Liebe Minze,

Ihren vorigen Brief habe ich doch bekommen, mich natürlich auch über ihn gefreut, oft an ihn und Sie gedacht und - ich weiß nicht genau warum - bis heute nicht geantwortet. Vielleicht deshalb, weil er so selbstständig, so gar nicht hilfs-, ja nicht einmal antwortbedürftig schien.

Anders heute. So unsicher? Das wäre schlimm, aber Ihre Unsicherheit hat wie auch übrigens in Schelesen etwas Fröhliches, Sorgenloses, Vertrauensvolles. Man hat Angst um Sie und möchte Sie doch nicht anders haben wollen. Das ist meine Stellung, während die Verwandten, die es ja durchaus nicht leicht haben mögen, begreiflicher Weise nur die Angst haben dürften. Ich erinnere mich nicht genau, ob Sie mir erzählt haben, wie der Vater (von Geschäftsführung und Krankenpflege abgesehn) mit Ihnen zufrieden war, ob Sie ihm Sorgen machten, wie er sich Ihre Zukunft dachte udgl. Das würde mich interessieren. Von irgendwelchen Zornesausbrüchen des Vaters sprachen Sie aber, glaube ich.

dass der Schulplan aufgegeben ist, ist sehr schade, und nicht ganz verständlich. Sie waren doch in Holzminden schon aufgenommen, wie Sie sagten. Und außerdem kann doch Holzminden nicht die einzige Möglichkeit sein. In Nordböhmen allein gibt es doch einige derartige Schulen. Und ernst scheint Ihnen diese Absicht doch noch immer zu sein, da Sie ja unter Umständen auch als Volontärin auf ein Gut gehn wollen. Ich weiß im Augenblick keine Möglichkeit, aber solche gibt es doch gewiß, Sie selbst sprachen doch von einer, wenn ich nicht irre, Großpriesener Domäne, wo Sie aufgenommen werden könnten. - Ist es auch damit nichts? Nun wir werden noch gemeinsam darüber nachdenken.

Wie haben Sie die Zeit in Schelesen und nachher verbracht? Mit Rolf und In-den-Feldern-Herumlaufen? Das wäre ja sehr gut, aber zu wenig oder zu viel. Es ist gut, seinen Träumen nachzujagen, aber schlecht, wie es dann meistens auszugehen pflegt, von ihnen gejagt zu werden. Und die Welt ist zwar groß und weit, wie Sie schreiben, aber um keine Haarbreite größer als man sich sie selbst zu machen versteht. In der Unendlichkeit, in der Sie die Welt jetzt sehn, ist doch neben der Wahrheit eines mutigen Herzens auch die Täuschung der 19 Jahre. Sie können das leicht daran überprüfen, dass Ihnen ebenso unendlich etwa ein Alter von 40 Jahren erscheint, das doch, wie Ihnen Ihre ganze Umgebung zeigen wird, zumindest die Unendlichkeit, von der Sie träumen, nicht enthält.

Was machen Sie in Karlsbad? Sind Sie schon gesund? In Karlsbad ist, glaube ich, auch eine Verwandte des Frl. Stüdl, von der sie mir viel Gutes erzählt hat, kennen Sie sie? Nach Meran fahre ich vielleicht in einem Monat. Sie sind selbst auch in Meran gewesen?

Herzliche Grüße Ihres

F. Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at