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[Stempel: Tatranské Matliary, 31.12. 20]

[An:] Herrn Dr Max Brod Praha V Břehová ulice 8

[Abs.:] Dr Kafka Tatranské Matliary Villa Tatra Slovvensko


Lieber Max, glaubst Du, dass mir bei Deinem Brief nicht heiß wird? Und die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit würde ich zwar, wenn man mir sie anbieten würde, auch nicht bekommen, aber nicht weil ich nicht nachgeben würde, sondern weil ich vor Gier schon beim Hinunterspringen mich totschlagen würde. Hat mich denn von Berlin etwas anderes abgehalten als große Schwäche und Armut, die das "Angebot" verhinderte, aber niemals mich verhindert hätte, dem "Angebot" zu erliegen. Mit allen Fäusten wäre ich losgegangen, Du kennst meinen Ehrgeiz nicht.

    Bei Dir ist es anders, Du hattest die Möglichkeit (so wie Du die Lebenskraft Berlins anzusehen vorgibst, sehe ich Deine Kraft wirklich an) und hast ihr mit der für mich überzeugendst sichersten Entscheidung nicht nachgegeben. So sicher und überzeugend ist in dieser Richtung für mich Deine Entscheidung, dass ich sie genau so anerkennen würde, wenn sie jetzt anders ausfallen sollte. Übrigens schreibst Du von einer Übersiedlung nach Berlin noch nichts. Und merkwürdig ist auch an der Berliner Lockung, dass Dich die Intensität dort lockt dass Du aber zu fühlen scheinst, Dein Prager Leben ließe sich nicht berlinisch intensivieren, sondern es müßte ein Berlinerisches Leben werden ganz und gar. Aber vielleicht hast Du in Berlin gar nicht den Befehl gehört nach Berlin zu kommen, sondern nur, aus Prag fortzugehn.

    Die Teatersache verstehe ich ohne nähere Erklärungen nicht, die Kritiken hat Berlin ebenso wie ich gelesen; Du hast selbst gesprochen; alles mögliche und unmögliche wird aufgeführt und vor den Fälschern schreckt man zurück?

    Felice war nicht bei Deinen Vorlesungen? Wegen ihres Zustandes wohl? In Berlin gewesen sein und F. nicht gesehen haben, kommt mir privat nicht richtig vor, trotzdem es natürlich bei mir auch so wäre. Ich habe für F. die Liebe eines unglücklichen Feldherrn zu der Stadt, die er nicht erobern konnte, die aber "trotzdem" etwas Großes - glückliche Mutter zweier Kinder - geworden ist. Von dem ersten Kind hattest Du keine Nachricht?

    Was mich betrifft: ich habe hier einen guten Ort gefunden, gut nämlich, soweit man etwas haben will, was noch einen Anschein von Sanatorium hat und doch keines ist. Es ist keines, da es auch Turisten, Jäger und überhaupt jeden aufnimmt, keinen überflüssigen Luxus hat, sich nur bezahlen läßt, was wirklich gegessen wird, und ist doch ein Sanatorium, da es einen Arzt hat, Liegekurmöglichkeit, Küche nach Belieben, gute Milch und Salme. Es liegt 2 km hinter Tatra-Lomnitz, also noch um 2 Kilometer näher an den großen Lomnitzer Spitzen, selbst ist es 900 m hoch. Guter Arzt? Ja, ein Spezialist. Wäre ich doch ein Spezialist geworden. Wie sich ihm die Welt vereinfacht! Die Schwäche meines Magens, die Schlaflosigkeit, die Unruhe, kurz alles, was ich bin und habe, geht ihm auf die Lungenerkrankung zurück. Solange sie nicht manifestiert war, hat sie sich eben in Schwäche des Magens, der Nerven maskiert. Manche Lungenerkrankungen - das glaube ich auch - kommen über solche Maskierungen gar nicht hinaus. Und da ihm das Leid der Welt so klar ist, hat er entsprechend in einem kleinen Ledertäschchen, nicht größer als eine Nationalfond-Büchse, immer auch das Heil der Welt bei sich und spritzt es ihr, wenn sie will, für 12 K ins Blut. Und wirklich ist er auch, damit alles zusammenpaßt, ein hübscher rotbackiger starker Mann mit einer jungen (offenbar jüdischen) Frau, die er liebt, und einem kleinen schönen Mädchen, das so merkwürdig klug ist, dass er davon gar nicht sprechen kann, eben weil es sein eigenes Kind ist und er sich nicht überheben will. Er kommt täglich zu mir, es ist sinnlos, aber nicht unangenehm.

    Im Ganzen läßt sich sagen: wenn ich dieses Regime ein paar Monate körperlich und geistig (besonders am gleichen Ort) aushalte, werde ich der Gesundheit sehr nahekommen. Aber wahrscheinlich ist das ein Fehlschluß und bedeutet nur: wenn ich gesund bin, so werde ich gesund werden. In der ersten Woche habe ich 1.60 zugenommen, was aber nichts beweist, denn in der ersten Woche gehe ich die Kur immer wie ein Löwe an.

    Es sind an 30 ständige Gäste hier, ich hielt die meisten für Nichtjuden, solche Vollungarn waren es, sie sind aber doch in der Mehrzahl Juden, vom Oberkellner angefangen. Ich rede sehr wenig und mit wenigen, zum größten Teil aus Menschenfurcht, aber auch weil ich es für richtig halte (dass einer, der Menschen fürchtet, es zeigt). Nur einer ist da, ein Kaschauer, 25jährig, mit elenden Zähnen, einem schwachen meist zugekniffenen Auge, ewig verdorbenem Magen, nervös, auch nur Ungar, hat erst hier Deutsch gelernt, von Slowakisch keine Spur - aber ein Junge zum Verlieben. Entzückend im ostjüdischen Sinn. Voll Ironie, Unruhe, Laune, Sicherheit aber auch Bedürftigkeit. Alles ist ihm "interessant, interessant", aber das bedeutet nicht das Gewöhnliche, sondern etwa "es brennt, es brennt". Ist Sozialist, bringt aber aus seiner Kindererinnerung viel Hebräisches herauf, hat Talmud und Schulchan Aruch studiert. "Interessant, interessant." Aber fast alles vergessen. Er läuft in alle Versammlungen, hat Dich gehört, erzählt, dass Kaschau von der Rede entzückt war, hat auch Langer die Misrachigruppe gründen sehn.

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    Möge Dir Berlin noch nachträglich alles Gute bringen und schreib mir einmal ein Wort darüber. Oder machst Du nicht einmal eine slowakische Reise? Entsteht der Roman, von dem Du einmal sprachst ?

    Grüß von mir Deine Frau und alle. Für die Grimmensteiner Aufenthaltbewilligung habe ich Dir noch nach Berlin an die Ewerbuchhandlung gedankt, es schien und scheint mir eine ganz besondere Guttat gewesen zu sein.


Dein Franz        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


vor den Fälschern: Siehe Anm. 34 oben.


ein Kaschauer: Arthur Szinay, der häufig in Kafkas Briefen an Robert 289 Klopstock erwähnt wird. Kaschau (Košice) liegt im äußersten Osten der Slowakei.


Schulchan Aruch: Kompendium der jüdischen Ritualgesetze und des jüdischen Rechts von Josef Karo (1488-1575).


Misrachigruppe: Misrachi (="Geistiges Zentrum") ist die Abkürzung des hebräischen Namens für den religiös-orthodoxen Flügel des Zionismus. Zu Georg (Jiři) Langer siehe 1916, Anm.16.


der Roman: Vermutlich der Roman, der als Rëubeni, Fürst der Juden. Ein Renaissanceroman, München: Kurt Wolff 1925 publiziert wurde.


Ewerbuchhandlung: Siehe Adreßangabe des Briefes vom 13. Dezember 1920. Vgl. auch Anm.36 oben und 1921 Anm.9.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at