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[Prag]

27/12 [1920]


Lieber Franz -

So ein kleines Papier und so eine lange große Reise! Doch ich will es zusammenfassen: etwas wirklich Entscheidendes ist nicht geschehen. Ein kleines Theater in Berlin interessiert sich zwar, aber auch das noch unsicher. Die Provinz schweigt. Es ist also möglich, dass es wie mit Esther bei der einen Aufführung in Königsberg bleibt. - Dagegen waren die zwei Vorlesungen in Berlin sehr hübsch (bei Ewer und im Verlag Rowohlt, letztere vor geladenen Gästen). Rowohlt möchte sehr gern, dass du in Berlin bei ihm liesest. Es ist ein hübscher anheimelnder Saal, etwa vierzig Fauteuils. Er möchte auch sehr gern, dass du bei ihm etwas verlegst. Findet, dass Wolff zu wenig für dich tut. Das finden überdies all die vielen, die sich bei mir nach deinem Befinden erkundigten. - Felice habe ich nicht gesehen. Meine Schwester Sophie war dort, findet sie glücklich, sie (F. ) erwartet ein zweites Kind etwa im Feber. Erkundigte sich sehr freundlich nach dir.

    Heute war ich bei deinen Leuten, sah die drei Karten, die du bisher geschrieben hast. Ich möchte nun, dass du trotz deines Zeitmangels mir angibst, ob du dich in dem seltsam unbekannten Ort wirklich wohl fühlst. Beschreibe mir auch ein wenig die Lage. Aber so, dass einer, der nur in der Eisenbahn vorbeigefahren ist und die vier großartigen Berge in Erinnerung hat, sich's vorstellen kann, wo du steckst. Tal oder Gipfel? Sanatorium? Ein Dorf oder Einschicht? Nächste Stadt? Kost? Viel Milch? Preise? (Mein Verdacht ist, dass du der Billigkeit wegen, also aus Geiz hingefahren bist) Wieviele Leute wohnen im Hotel, wo du bist? Oder ist es kein Hotel? Guter Arzt? - Kurz, du kannst dir denken, dass mich alles sehr interessiert, was rund um dich vorgeht. Dann verspreche ich dir, zum Lohn für gute Berichterstattung, auch meinerseits ausführlich zu werden.

    Denn zu erzählen hätte ich viel. Berlin hat diesmal unendlich auf mich gewirkt. Ich war ja zum erstenmal nicht nur auf zwei Tage dort. Solche kurze Aufenthalte geben ein ganz falsches Bild. Erst wenn man in Ruhe betrachten kann, wie intensiv und glatt alle Leute dort viel, unendlich viel arbeiten, wie leicht und klaglos dabei, - erst da beginnt das richtige Staunen. Solange man selbst gehetzt ist und viel zu tun hat, ist man gleichsam diesen Berlinern ebenbürtig. Aber gerade das ist der falsche Schein. Man ist eben nur "Berliner für zwei Tage". Aber Berliner sein Leben lang - das ist das Wunder! Und "es wird jeschafft". Fällt man nach ein paar Arbeitstagen, schweren Konferenzen, die man so so fertiggebracht hat, in seinen üblichen provinziellen Quietismus zurück, dann scheiden sich die Lebensstile, - dann sieht man erst, wie die andern das mühelos Tag für Tag leisten, was man nur als Ausnahme bewältigt. Ich sage das ohne jede Wertung, wie mir überhaupt Wertungen immer schwerer fallen. Denn eigentlich hätte mir doch dieser ganze Taylorismus äußerst mißfallen müssen, - und dazu dieser Luxus, die weichen Geigen, Dardanella-Foxtrott - ja extra für diesen Foxtrott eine weibliche Gestalt, eine neue Göttin vielleicht erfunden - und diese Operetten, Pallenberg, die geheizten Lustspielbühnen, während Literatur in den Vorstädten, im Volkstheater Coepenickerstraße sich die nötigen Kohlenquanten nicht leisten kann. Dort sah ich Pé-e-e-rikles (sprich mit möglichst langem e) von Shakespeare, dem mit gebatikten Kostümen auf einer aus Not einfachen Bühne nachgeholfen wird, der Held im pfirsichfarbigen Wams, die ganze schauspielerische Männlichkeit aller Theatertraditionen, Tenor zum Anbeißen, die Heldin von der süßen Stimme des Fräulein Kanitz gesungen, die graublau gebatikte Höschen mit den vielen Volants der Pritzel-Puppen trug. In Zivil trägt sie eine Jacke aus Leopardenfell. Es geht ihr sehr gut. Der berühmte Kortner (Richard der Dritte bei Jessner) lebt mit ihr. Ihre Stimme gefiel mir wirklich außerordentlich. - Doch das alles, was ich da schreibe, ist natürlich unwahr! Das alles hat mir ja nur deshalb gefallen, weil ein Mittelpunktserlebnis da war, eine Frau. Ich schweige hierüber, denn es ist nachträglich doch wieder unklar geworden. Vielleicht wird auch dieses Glück in den Spuren meiner Brünner Erlebnisse davonwandeln. Vielleicht ist das meine Bestimmung, deren Trauer du freilich nicht verstehen kannst. Denn du lebst in der heißen Hölle, deine Liebe wird umworben, ich lebe in der eiskalten. Soll ich stolz darauf sein, dass Dante die letztere als die ärgere in seine untersten Sphären setzt? - Es ist seltsam, dass wir in dieser Hinsicht ganz entgegengesetzt fühlen. Dir ist, wenn ich dich recht verstehe, das Körperliche der Frau etwas Unheimliches. Mir die eigentliche Heimat, in der ich zum eigentlichen Dasein erwache. Ich habe dafür ein untrügliches Zeichen: Auch in der Erinnerung erscheinen mir körperliche Vereinigungen als die einzigen vollerfüllten Stunden meines Daseins. An einige der besten von ihnen denke ich fast täglich mit Sehnsucht und mit tiefer Dankbarkeit zurück. - Wenn du mir über diese Dinge schreiben willst, so schicke mir nur eine Ansichtskarte mit unterstrichener Unterschrift und deinen Brief an die Chiffre "Koschel - Prag 1 postrestante". - Das Papier geht zu Ende. Deshalb nur noch die wichtigste Nachricht: es ist mir gelungen, für eine Auswahl Schreiberscher Lieder den Welt-Verlag zu gewinnen, unter der Bedingung, dass ich ebenso viel Seiten Einleitung schreibe wie Notentext ist. Ich spielte auch Prof. Bie die Lieder vor und sie gefielen ihm. -

Dein Max        
 


Das alles ist nur ein ganz kleines Panikelchen dessen, was ich dir sagen wollte.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


interessiert sich: D.i. für Die Fälscher.


Ewer: Zu dieser am 1. August 1920 gegründeten Berliner Buchhandlung, von der Kafka später häufig Bücher bestellt hat, vgl. Anm.44 unten und 1921 Anm.9.


Auswahl Schreiberscher Lieder: Zugleich mit Brods Broschüre Adolf Schreiber. Ein Musikerschicksal (Berlin: Welt-Verlag 1921) sind zwölf Lieder des Komponisten erschienen.


Prof. Bie: Oskar Bie (1864-1938), seit 1894 Redakteur der (ursprünglich Freie Bühne für modernes Leben genannten) Zeitschrift Die neue Rundschau. Erst zum Jahresanfang 1922 hat er die Redaktion an Rudolf Kayser weitergegeben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at