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[Stempel: Praha, 7.8.20]
[An.] Herrn Max Brod Johannisbad Schwarzenberg Nr 12
[Abs.:] Dr Kafka Prag Pořič 7
Lieber Max, wenn Du, Du so außerordentlich faul bist, dann ist es
sicher, gutes Wetter vorausgesetzt, ein Glücksfall, bei mir wäre
es nichts besonderes, ich bin immer faul, auf dem Land, in Prag, immer
und am meisten sogar wenn ich beschäftigt bin, denn diese Beschäftigung
ist ja keine, ist nur das dankbare In-der-Sonne-liegen des Hundes.
Das "Heidentum" habe
ich gleich Montag in einem Zug gelesen, das "Lied der Lieder"
noch nicht, denn seitdem war Schwimmschulwetter. Über die selbstverständliche
Fülle, dabei Geradlinigkeit und Durchdachtsein des Kapitels war ich
immerfort von neuem erstaunt, trotzdem ich es erwartet hatte, denn dieses
"Heidentum" ist ja zum Teil Deine geistige Heimat, trotzdem
Du es nicht immer willst. Es ist prachtvoll, ich war Deine allerdings unkritischeste
galizische Schülerin und habe beim Lesen im Geheimen
Dir oft die Hand gedrückt und Dich oft beim Arm genommen.
Dabei kann ich gar nicht sagen, dass ich mit
Dir einverstanden bin oder richtiger gesagt: ich trage vielleicht nur Dein
geheimes Einverständnis mit dem "Heidentum" offen. Überhaupt,
wo Du aus Dir sprichst, bin ich Dir sehr nahe; wo Du zu polemisieren anfängst,
bekomme ich oft auch Lust zu polemisieren (so gut ich es kann, natürlich).
Ich glaube nämlich an kein "Heidentum"
in Deinem Sinn. Die Griechen z. B. kannten doch einen gewissen Dualismus
sehr gut, was hätte sonst die Moira und vieles andere für einen
Sinn gehabt? Nur waren es eben ganz besonders demütige Menschen -
in religiöser Hinsicht - eine Art lutheranischer Sekte. Sie konnten
das entscheidend Göttliche gar nicht weit genug von sich entfernt
denken, die ganze Götterwelt war nur ein Mittel, das Entscheidende
sich vom irdischen Leib zu halten, Luft zum menschlichen Atem zu haben.
Ein großes nationales Erziehungsmittel, das die Blicke der Menschen
festhielt, weniger tief war als das jüdische Gesetz, aber vielleicht
demokratischer (hier waren kaum Führer und Religionsbegründer),
vielleicht freier (es hielt fest aber ich weiß nicht womit es hielt)
vielleicht demütiger (denn der Anblick der Götterwelt brachte
nur zum Bewußtsein: also nicht einmal, nicht einmal Götter sind
wir und wären wir Götter, was wären wir?). Am nächsten
kommt man vielleicht Deiner Auffassung, wenn man sagt: Es
gibt teoretisch eine vollkommene irdische Glücksmöglichkeit,
nämlich an das entscheidend Göttliche glauben und nicht
zu ihm streben. Diese Glücksmöglichkeit ist ebenso Blasphemie
wie unerreichbar, aber die Griechen waren ihr vielleicht näher als
viele andere. Aber auch das ist noch nicht Heidentum in Deinem Sinn. Und
Du hast auch nicht bewiesen, dass die griechische Seele verzweifelt
war, sondern nur dass Du verzweifelt wärest, wenn Du Grieche
sein müßtest. Das stimmt allerdings für Dich und mich,
aber auch hier nicht ganz.
Eigentlich erlebt man in dem Kapitel dreierlei:
Dein Positives, das hier unerschüttert bleibt und das ich auch im
vorigen nicht anrühre, dann Deinen konzentrischen aufregenden Angriff
auf das Griechentum und schließlich seine stille Selbstverteidigung,
die im Grunde ja auch Du führst.
__________
Mit Deiner Frau sprach ich vorgestern längere
Zeit auf der Sophieninsel und auf dem Nachhauseweg. Sie war fröhlich,
sehnsüchtig zwar, wie sie sagte, aber fröhlich. Eine Verlobungsgeschichte
Deines Schwagers regte sie zwar ein wenig auf, regte sie aber unzweifelhaft
auch ein wenig an, wie es eben solche Sachen, ich fühlte das an mir
auch, immer tun.
Von Abeles kam lange nichts ich fürchtete
schon, es sei mißlungen, da kam gestern nachmittag doch seine Antwort,
recht freundlich. Es fällt übrigens doch auf den
Verlag Löwit zurück, denn Abeles geht am 2. August auf Urlaub
und hat die Sache seinem Freund, einem Dr. Ornstein, Lektor des Verlages
Löwit übergeben, sie wird, wie er versichert, "gewissenhaft
durchgeführt werden". Vom Geld schreibt er nichts, holt sichs
also doch wohl bei Löwit. Gleichzeitig bittet er mich Dich zu verständigen
dass das Jahrbuch heuer doch nicht erscheint, er
kennt eben Deine jetzige Adresse nicht und es liegt ihm viel daran Dich
"den Vielbeschäftigten rechtzeitig seines liebenswürdigen
Versprechens zu entbinden". Da wahrscheinlich Deine Frau etwas für
das Jahrbuch abzuschreiben hat, war ich heute gegen abend bei ihr, habe
sie aber, da sie nicht zuhause war, nur durch einen Zettel davon verständigt.
Mir geht es leidlich. Die Antwort nach Wien hat
natürlich Zeit. Letzthin war Otto Pick bei mir, er erwähnte einen
Engländer, der den "Volkskönig"
für Amerikaaufführungen aus dem Deutschen ins Englische übersetzen
will. - Das ist alles und jetzt geh ich ins Bett. Ich höre: Du schläfst
so gut. Allen Segen über Deinen Schlaf.
Franz
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
"Heidentum" . . . "Lied der Lieder": Es handelt sich um zwei Bestandteile von Brods im Entstehen begriffenem Buch Heidentum, Christentum, Judentum (siehe Brods Brief vom 9. Juni 1920). Was Kafka unter dem Titel "Heidentum" zu lesen bekam und kritisiert, ist offenbar zum Teil in den zweiten Band dieses Buches S. 258-279 eingegangen; der Abschnitt "Liebe als Diesseitswunder. Das Lied der Lieder" findet sich im zweiten Band S. 5-65.
galizische Schülerin: Brod merkt hierzu an: "Erinnerungen an meine Lehrkurse für Flüchtlingskinder während des Weltkriegs. Kafka hatte, so oft er konnte, als Zuhörer teilgenommen" (Br 512). Vgl. hierzu SL 230-232, F 675 und 726, und Max Brod, "Unterrichtsstunde", Neue Jüdische Monatshefte 2. Jg. Heft 9/10 (Sonderheft "Galizien"), 10./25. Februar 1918, S. 240 f.
Es gibt teoretisch: Vgl. H 96 und H 47. Kafka war um diese Zeit mit seinen Ende 1917/ Anfang 1918 in Zürau entstandenen Aphorismen beschäftigt.
Es fällt . . . Löwit: Worum es hier ging, konnte nicht ermittelt werden. Zum Verlag Löwit siehe 1917 Anm.103.
das Jahrbuch: Siehe Anm. 26 oben.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |