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[An Ottla Kafka]

[Stempel: Liboch - (Anfang) XI. 19]
 


Liebe Ottla, wie in vielem andern, überlasse ich Dir die Entscheidung, ob Oskar kommen soll. Ich habe einige kleine Bedenken, die allerdings fast ausschließlich mich persönlichbetreffen aslo nicht sehr nobel sind und überdies wesenlos werden, wenn nur irgendwie zu erwarten ist, dass die drei Tage Urlaub Oskar von Nutzen sein werden, denn dann würde ich den Nutzen mit ihm teilen. Immerhin sage ich die Bedenken: wir müßten in einem Zimmer wohnen, ich könnte nicht bis 11 Uhr im Halbschlaf liegen, ich müßte mehr als bisher spazieren gehn, er würde in unserem gemeinsamen Zimmer arbeiten, ich müßte ihn öfters stören. Ich würde den noch kaum angefangenen Brief an den Vater nicht fertig bringen und - schließlich - würde er mir eine abscheuliche "Auskunft" mitbringen aus welcher mir Max schon einiges erzählt hat. Diese alle Bedenken können aber auch ganz zusammenfallen, die Wirklichkeit kann viel einfacher sein: wir können jeder auch in eigenem Zimmer vielleicht wohnen, es können auch andere mit ihm spazieren gehn, er kann Gefallen am Liegen finden, der Brief an den Vater kann trotzdem fertig werden oder kann, was wahrscheinlicher ist, trotz seines Nichtkommens ungeschrieben bleiben, die Auskunft allerdings wird er auf jeden Fall mitbringen.

Motive hast Du also genug, entscheide, jedenfalls aber wäre es mir lieb, wenn Du zu Oskar giengest, sei es ihn zu grüßen, sei es ihn einzuladen. Mir geht es, da keine Anforderungen an mich gestellt werden, erträglich gut, allerdings war Max bisher hier. Du schreibst mir nicht.

Franz

Grüß alle vom Vater bis zu Chana hinab.




Datierung erschlossen in Relation zu Nr. 75.

Im November 1919 war Kafka erneut in Schelesen, zuerst gemeinsam mit Max Brod. (Vgl. FK 70 und 182) Ottla lebte in Prag bei den Eltern.


ob Oskar kommen soll: Ähnlich wie während des Zürauer Aufenthalts (vgl. Nr. 53 und 54) sollte der blinde Oskar Baum für ein paar Tage Kafkas Gast in Schelesen sein. Ob es dazu kam, ist nicht bekannt. Vgl. auch Br 250.


den noch kaum angefangenen Brief an den Vater: Das berühmte Dokument (H 162 ff.) wurde in Schelesen geschrieben, möglicherweise aber erst in der zweiten Monatshälfte in Prag fertiggestellt (vgl. Nr. 74, 75 und H 449 f.)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at