Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, wie in vielem andern, überlasse ich Dir die Entscheidung,
ob Oskar kommen soll. Ich habe einige kleine Bedenken,
die allerdings fast ausschließlich mich persönlichbetreffen
aslo nicht sehr nobel sind und überdies wesenlos werden, wenn nur
irgendwie zu erwarten ist, dass die drei Tage Urlaub Oskar von Nutzen
sein werden, denn dann würde ich den Nutzen mit ihm teilen. Immerhin
sage ich die Bedenken: wir müßten in einem Zimmer wohnen, ich
könnte nicht bis 11 Uhr im Halbschlaf liegen, ich müßte
mehr als bisher spazieren gehn, er würde in unserem gemeinsamen Zimmer
arbeiten, ich müßte ihn öfters stören. Ich würde
den noch kaum angefangenen Brief an den Vater nicht fertig
bringen und - schließlich - würde er mir eine abscheuliche "Auskunft"
mitbringen aus welcher mir Max schon einiges erzählt hat. Diese alle
Bedenken können aber auch ganz zusammenfallen, die Wirklichkeit kann
viel einfacher sein: wir können jeder auch in eigenem Zimmer vielleicht
wohnen, es können auch andere mit ihm spazieren gehn, er kann Gefallen
am Liegen finden, der Brief an den Vater kann trotzdem fertig werden oder
kann, was wahrscheinlicher ist, trotz seines Nichtkommens ungeschrieben
bleiben, die Auskunft allerdings wird er auf jeden Fall mitbringen.
Motive hast Du also genug, entscheide, jedenfalls aber wäre es mir
lieb, wenn Du zu Oskar giengest, sei es ihn zu grüßen, sei es
ihn einzuladen. Mir geht es, da keine Anforderungen an mich gestellt werden,
erträglich gut, allerdings war Max bisher hier. Du schreibst mir nicht.
Franz
Grüß alle vom Vater bis zu Chana hinab.
Datierung erschlossen in Relation zu Nr. 75.
Im November 1919 war Kafka erneut in Schelesen, zuerst gemeinsam mit Max
Brod. (Vgl. FK 70 und 182) Ottla lebte in Prag bei den Eltern.
ob Oskar kommen soll: Ähnlich wie während
des Zürauer Aufenthalts (vgl. Nr. 53 und 54) sollte der blinde Oskar
Baum für ein paar Tage Kafkas Gast in Schelesen sein. Ob es dazu kam,
ist nicht bekannt. Vgl. auch Br 250.
den noch kaum angefangenen Brief an den Vater: Das
berühmte Dokument (H 162 ff.) wurde in Schelesen geschrieben, möglicherweise
aber erst in der zweiten Monatshälfte in Prag fertiggestellt (vgl.
Nr. 74, 75 und H 449 f.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at