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Max Brod an Franz Kafka

Heringsdorf, Villa Krüger

1. August 1919


Lieber Franz,

Wenn ich dir je gut geraten habe, so höre diesmal auf mich und trachte, so schnell wie möglich hierher zu fahren. In der Paßsache wird man dir in der Zeltnergasse behilflich sein. - Alle Erholung ist ein Schwindel gegenüber dieser hier an der See, die binnen 48 Stunden einen neuen Menschen herstellt. Ich bin sehr glücklich, dass mich ein guter Instinkt hergetrieben hat. Wundervoll ist diese Unabhängigkeit vom Wetter, die man nirgends sonst hat. Bei Sonne brennst du ab; bei Regen und Wind ist Nordwird, daher das Bad umso schöner, überdies hält der Regen hier nie an, da man über den weiten Horizont hin die Wolken richtig abschätzen kann und sich gar nicht erst fürchtet. Wenn sie kommen, ist hinter ihnen meist schon wieder das Ende sichtbar. - Nimm dazu, dass du hier endlich im Frieden bist, im vollständigen endgiltigen Frieden wie bei uns noch lange nicht. Das ist ein wunderbarer Vorteil, den die Besiegten vor dem Sieger voraus haben (ich glaube, diese gerechte Ausgleichung hast du in deinen "Herrenreitern" nicht gewürdigt): für den Besiegten ist der Krieg nämlich wirklich radikal erledigt, er streift ihn ab wie einen nassen Badeanzug und frottiert sich schon, denkt schon gar nicht mehr an das Naßkalte, während der Sieger sich mit Festfeiern u. ä. befaßt und dabei, unter dem Anschein der Freude, doch von der Nervosität des vorigen Zustandes nicht loskommt, immer noch auf mehr Vorteil, mehr Befriedigung lauert u.s.f. - Hier ist Hochsaison. Wir wohnen in einer Dachkammer und haben auch die erst nach Abenteuern erlangt. Von morgen an gutes Zimmer. Am 15. August reisen viele ab, da wirst du dir dann bequem eine Veranda mit Seeaussicht aussuchen können - und eine Luft atmen, die es doch nur an den Rändern von Europa gibt, mittendrin nirgends. Ich glaube, auch der Doktor, den du natürlich konsultieren mußt, würde dir nicht abraten. Die spezielle Indikation verstehe ich natürlich nicht,-aber das allgemein Hygienische und Psychische gerät hier in eine Verzückung athletischer Gesundheit. - Bei Wolff sprach ich viel von dir, dein Buch ist fast zu Ende gedruckt. Der Korrektor, der es verschlampt hat, ist (nicht nur deshalb) entlassen worden. Auch Baums Buch ist fertig! Weltsch hat gute Aussichten. Ich schrieb beiden von Leipzig aus, doch kannst du ihnen vielleicht auch diesen Brief zeigen. - Es wäre sehr schön, wenn du mal mit Meyer sprechen könntest, - er sagte nochmals, dass er aus einem Roman von dir einen sensationellen Erfolg machen wollte. Ich werde doch deinen "Prozeß" auf eigene Faust zu Ende schneidern!

Dein Max        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


hierher: In das Seebad Heringsdorf an der Ostseeküste der Insel Usedom (nördlich von Stettin).


"Herrenreitern": "Zum Nachdenken für Herrenreiter".


dein Buch: Es handelt sich entweder um In der Strafkolonie oder um Ein Landarzt.


Baums Buch: Die Tür ins Unmögliche (siehe 1918 Anm.10).


Weltsch . . . Aussichten: Es handelt sich um Felix Weltsch, Gnade und Freiheit. Untersuchungen zum Problem des schöpferischen Willens in Religion und Ethik, München: Kurt Wolff 1920.


Meyer: Georg Heinrich Meyer vom Kurt Wolff Verlag. Siehe KW XVIII ff.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at