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[An Käthe Wohryzek, eine Schwester Julie Wohryzeks]
[Prag, 24. November 1919; Montag]

Verehrte gnädige Frau, ich kenne Sie nur flüchtig aus Schelesen, aber ich hatte, natürlich auch beeinflußt von der Liebe, mit der J. an Ihnen hängt, gleich Vertrauen zu Ihnen; sehr gut schienen Sie im Grunde zu sein, auch beherrscht und kaltblütig, aber auch ein wenig zu trübe, ein wenig unzufrieden, eine wenig hilflos und gerade dadurch befähigt mehr zu verstehn, als in Ihrem nächsten Lebens- und Erfahrungskreis lag. Daraus nehme ich die Hoffnung, dass Sie wenigstens geduldig und aufmerksam mich anhören, besonders da wir doch beide dadurch verbunden sind, dass wir J. sehr lieb haben, jeder in seiner Art.
Sie wissen, wie J. und ich bekannt wurden. Der Anfang der Bekanntschaft war sehr merkwürdig und für Abergläubische nicht eigentlich glückverheißend. Wir lachten einige Tage lang, wann wir einander begegneten, ununterbrochen, beim Essen, beim Spazierengehn, beim Einander-gegenüber-sitzen. Das Lachen war im Ganzen nicht angenehm, es war ohne sichtbaren Grund, es war quälend, beschämend. Es trug dazu bei, dass wir uns von einander ferner hielten, das gemeinsame Essen aufgaben, seltener einander sahn. Es entsprach das, glaube ich, auch unserer sonstigen Absicht. Ich hatte zwar ein / von Krankheit abgesehen / verhältnismäßig glückliches freies ruhiges Jahr hinter mir, aber ich war doch nur wie einer der wund ist und solange er nirgends anstößt, leidlich lebt, aber bei der ersten richtig treffenden Berührung in die schlimmsten ersten Schmerzen zurückgeworfen wird und zwar nicht so als ob die alten Erlebnisse wieder lebendig würden, nein, die sind und bleiben vergangen, aber es ist das Formelle der Schmerzen übriggeblieben, förmlich ein alter Wundkanal und in diesem fährt jeder neue Schmerz gleich auf und ab, schrecklich wie am ersten Tag und schrecklicher weil man doch so viel weniger widerstandsfähig ist. Ich weiß nicht, ob Sie etwas Ähnliches in Ihrer Erfahrung haben. Mir aber war es damals schon in den ersten Tagen so, eine der ersten Nächte war meine erste schlaflose seit einem Jahr, ich verstand die Drohung. Ebenso hielt auch J. sich von mir zurück. Sie ist an und für sich zurückhaltend, außerdem mag ich ihr mit meinem Wesen, dem Vorlesen, meinen ihrer glücklicheren Anlage unverständlichen Beängstigungen anfangs besonders fremd gewesen sein.
Für die Dauer konnte das allerdings nicht so bleiben zwischen zwei Menschen, die so voll und stark zusammenstimmen wie wir zwei und jeder für den andern ein Zwang ist und zwar unabhängig von Glück und Leid, einfach eine Notwendigkeit als Glück und als Leid. Dazu kam noch äußerlich das förmlich verzauberte Haus, in dem wir zwei fast allein waren und infolge des Winters draußen auch eingeschränkt blieben. Trotzdem hielten wir uns beide - es soll das einzige Mal bleiben, dass ich mich lobe, ich werde später auch keinen Anlaß mehr finden - großartig tapfer. J. hatte es vielleicht leichter, sowohl als Mädchen, als auch weil sie eine wunderbare, sehr schwer von außen her zu trübende Mischung von Wärme und Kälte hat. Ich litt dort aber wirklich in aller Fülle das Leid der Kreatur; aber was bedeutet das; mit dem Leid der letzten Zeit verglichen ist es ein Spiel gewesen.
Wir brach[t]en es also durch, erholt hatten wir uns zwar grundwenig, besonders ich wäre mit meinem Herzen am liebsten jeden Tag beim Doktor gewesen, aber wir brachten es durch. Es war zwischen uns festgestellt worden, dass ich Ehe und Kinder für das höchste Erstrebenswerte auf Erden in gewissem Sinne hielt, dass ich aber unmöglich heiraten konnte / Beweis dessen blieb, da alles andere nicht genug verständlich ausfiel, meine zweimalige Entlobung / und dass wir daher Abschied nehmen mußten. So geschah es. Es war zwar sehr trübselig, aber gemildert durch die uneingestandene Überzeugung, dass es dabei nicht bleiben könne. Immerhin sagten wir uns beim Abschied noch gar nicht Du und dass ich hie und da während der 6 Wochen die kleine Hand länger als nötig in meiner gehalten haben, dürfte, soweit ich mich erinnere, bis auf einen kleinen häuslichen Briefwechsel das wichtigste Ereignis gewesen sei[n].
J. hatte natürlich keine so klare Meinung von der Ehe wie ich. Sie sagte, sie werde nicht heiraten, sie sagte nicht, wie ich, sie wolle oder könne nicht heiraten. Das ist zwar die gewöhnliche Mädchenrede in gewissen Fällen, aber ihr glaubte ich es bald wirklich. Ohne jeden inneren Halt, den Schaden dessen aber in der schönen Ausgeglichenheit ihres Wesens kaum fühlend, hatte sie ein verschwommenes Verlangen nach Glanz, Welt und Genießen / davon kann ich jetzt in ihr fast nichts mehr finden, und Sie? / das durch ledig bleiben vielleicht ein wenig, durch die gewöhnlichen, ihr zunächst liegenden Ehemöglichkeiten gewiß nicht befriedigt worden wäre. Auch hatte sie die ursprüngliche Sehnsucht nach Kindern kaum mehr, mit der wird ja bei Frauen unsere Art des Lebens / scheinbar / schnell und restlos fertig. Warum also hätte sie heiraten sollen?
Hinsichtlich des Nichheiratens waren wir also einig, nicht hinsichtlich der Gründe und das verbot uns das Zusammenbleiben. Damals gab es für mich noch zwei Möglichkeiten entweder völlig ernst machen und dieser einzig mögliche Ernst zwischen Mann und Frau scheint mir die Ehe oder aber sich mit aller Gewalt von einander fernhalten. Diese zweite Möglichkeit war äußerst schwer aber in Schelesen gelang sie. Infolge meines Irrtums allerdings. Ich glaubte nämlich aus verschiedenen hier nicht weiter interessanten Gründen, dass alles nur eine Schelesener Angelegenheit sei von der wir beide in Prag frei sein würden. Ich belog mich vielleicht auch absichtlich, um mich dort in aller Selbstquälerei nur halbwegs aufrecht zu erhalten.
Tatsächlich schrieben wir einander während der 3 Wochen, die ich dann noch allein in Schelesen war, nicht einmal, als ich aber dann nach Prag kam, flogen wir zueinander wie gejagt. Es gab keine andere Möglichkeit, für keinen von uns. Die äußere Führung des Ganzen hatte allerdings ich.
Und nun kam eine verhältnismäßig glückliche und ruhige Zeit. Da es über unsere Kräfte ging, einander fern zubleiben, hörten wir mit diesen Anstrengungen auf. Für Sie, als Schwester und Freundin, mag darin allerdings nicht viel Erfreuliches gewesen sein. Man konnte uns im tiefen Wald sehen, spät abends in den Gassen, in Černošic baden und hätte man uns etwas wann immer gefragt, ob wir einander heiraten werden, hätten wir beide gesagt: Nein, J. ehrlich, ich schon damals nicht frei. Ich konnte mich mit diesem Leben, wenigstens damals, nicht begnügen, was daran gut war, war halb und nicht einmal das, was daran schlecht war, war vollkommen. Ich war es, der zum Heiraten drängte, ausschließlich ich, ich zerstörte mit Absicht ein recht friedliches Leben und ich bereue es gar nicht, vielmehr ich bin sehr unglücklich über das, was ich angerichtet habe, aber ich wüßte nicht, wie ich es hätte anders machen sollen, ich mußte auf das Heiraten drängen.
Was gab mir das Recht dazu, da ich doch schon einmal sehr schlechte Erfahrungen / ausschließlich mit mir / gemacht hatte? Die Dinge lagen hier so viel günstiger als früher, ja so, wie man sie gar nicht günstiger hätte ausdenken können. Ich will das hier nicht im Einzelnen begründen, sondern nur sagen, dass wir einander so nahe waren / und sind / wie J. selbst es nicht weiß, dass ferner anzunehmen war, alles Vorbereitende würde sehr schnell und einfach sich abtun lassen und dass schließlich der Widerstand meines Vaters, bei dem unglücklichen Verhältnis, in dem ich zu ihm stehe, mir ein weiterer starker Beweis für die Richtigkeit dessen war, was ich tun wollte. Es sollte meiner Meinung nach zwar eine Liebesheirat, noch eigentlicher aber eine Vernunftheirat im hohen Sinne sein. Es gab zwar in der ferneren Umgebung J's einige Kleinigkeiten, die mich störten, aber wo hätten sich die nicht gefunden und außerdem war das Verhalten Ihrer Familie, soweit ich es zu fühlen bekam, fast rührend zart und rücksichtsvoll verglichen mit dem vielleicht etwas groben, wenn auch natürlich sehr gut gemeinten Vorgehn meines Vaters.
Worin bestanden nun die Widerstände in mir, die trotz allem nicht verschwunden waren sondern gewissermaßen auf der Lauer lagen und die Entwicklung beobachteten? Ich kann von ihnen tatsächlich wie von etwas Fremden reden, denn sie übersteigen beiweitem meine persönlichen Kräfte und ich bin, wenn sie wollen, ganz in ihrer Macht. Zunächst scheiden materielle Sorgen fast ganz aus, ich habe sie nie gehabt, kann sie also vielleicht fürchten, doch wird das, da ich diese Sorgen in ihrer Realität mir gar nicht vorstellen kann, vorläufig nie für mich entscheidend sein. Es ist anderes, es spricht etwas so zu mir und mischt die materiellen Sorgen, da diese an sich wenig bedeuten, teuflisch klug unter die andern: Du, der Du für Deinen innern Bestand unaufhörlich kämpfen mußt, mit allen Deinen Kräften und sie genügen nicht einmal, Du willst jetzt einen eigenen Hausstand gründen, die vielleicht notwendigste, aber jedenfalls positivste und kühnste Tat, die es überhaupt gibt? Mit welchem Kräfteüberschuß willst Du das tun? Du, der Du noch gerade knapp vom Augenblick zu Augenblick die Verantwortung für Dich selbst trägst, willst auch noch die Verantwortung für eine Familie tragen? Mit welchen Kräften wirst Du das besorgen? Und Du willst doch so viele Kinder haben, als Dir gegeben werden, denn Du heiratest doch, um besser zu werden, als Du bist, und vor jeder Kinderbeschränkung in der Ehe schaudert Dich. Aber Du bist kein Bauer, dem das Land die Kinder nährt und bis zum letzten hinuntersteigend nicht einmal ein Kaufmann, ich meine der innern Anlage nach, sondern / wohl eine Auswurfklasse des europäischen Berufsmenschen / Beamter, dabei übernervös, tief an alle Gefahren der Litteratur verloren, lungenschwach, müde sich herumdrückend um die kleine Schreibarbeit im Bureau. Mit diesen Vorbedingungen / wobei ohne weiteres zugegeben sei, dass geheiratet werden muß / willst Du heiraten? Und Du hast noch die Kühnheit bei solchen Absichten verlangen zu wollen, dass Du bei Nacht schläfst und nicht an den Tagen hinterher halb irrsinnig von Kopfschmerzen wie angezündet herumläufst? Und mit dieser Morgengabe willst Du ein vertrauendes, hingebendes, unbegreiflich uneigennütziges Mädchen glücklich machen?
Das sind die Hauptfragen, an denen noch viele Nebenfragen hängen. Auf alle diese Fragen gibt es natürlich unzählige Antworten und zu den Antworten unzählige Gegenfragen u.s.f. und die Nächte können davon Taghell beleuchtet werden. Aber das Endergebnis ist doch wieder nur das großartig ruhige Wiederauftreten der ersten Fragen und die Unfähigkeit ebenso ruhig zu antworten.
Sie werden gnädige Frau einwerfen, dass ich doch alles das offenbar doch auch früher wußte, also keinen Grund hatte, die Sache zur Qual aller Beteiligten so weit zu treiben. Darauf kann ich einiges sagen: erstens weiß man solche Dinge, selbst wenn man sie ähnlich erfahren hat, niemals, sondern muß sie wieder von neuem schrecklich erleben. Zweitens hatte ich keine Wahl, denn das verhältnismäßige friedliche Glück des damaligen Zustandes hielt ich meiner zur Ehe strebenden Natur nach für unberechtigt und glaubte ihm wenigstens eine nachträglich Berechtigung durch die Ehe geben zu können oder zumindest durch die äußerste, nichts schonende Anstrengung zur Ehe zu kommen. Das war eine innere Zwangslage. Drittens war ja wie ich schon sagte, die Lage sonst äußerst günstig und ich durfte, selbst wenn ich mich über die Gegenkräfte in mir nicht täuschte, hoffen, zu erreichen, was ich wollte. Alle die großen Bedenken verkriechen sich ja zunächst vor dem festen Entschluß, suchen ihn zwar durch alle Plagen der Schlaflosigkeit zu erschüttern, in ihrer eigenen Gestalt wagen sie aber noch lange nicht aufzutreten. Darauf baute ich meine Hoffnung. Das ganze war ein Wettrennen zwischen den äußeren Tatsachen und meiner inneren Schwäche. Es gab verschiedene Phasen, zuerst eine Verzögerung der ärztlichen Untersuchung, weil der Professor auf Urlaub war - das war schlecht; dann den nicht allzulange dauernden Widerstand meines Vaters - das war gut auch deshalb, weil es zerstreute und die Gedanken von den eigentlichen Gefahren ablockerte; dann kam die Möglichkeit einer erträglichen sofortigen Wohnung - das war nun schon ausgerechnet, eine kleine eilige Woche, das Aufgebot war gesichert, wir wären verheiratet gewesen. Aber Freitag zeigte sich dann dass wir, da die Wohnung uns entwischt war, Sonntag doch nicht heiraten konnten. Ich will damit nicht sagen, dass das ein Unglück war, vielleicht wäre dann ein desto ärgerer Zusammenbruch gekommen und hätte dann schon eine Ehepaar begraben, ich will vielmehr damit nur sagen, dass meine Hoffnung zur Ehe zu kommen nicht unberechtigt war, und dass ich selbst an den Tatsachen gemessen nur ein armer Mensch und infolge der Armut aufs Glückspiel angewiesen aber kein Lügner war.
Das war damals der Wendepunkt, nachher war es nicht mehr aufzuhalten, die Frist, welche mir für diesmal gegeben war, war abgelaufen, was bisher von der Ferne gewarnt hatte, donnerte mir jetzt wirklich Tag und Nacht ins Ohr; J. weiß aus äußeren Anzeichen beiläufig wie es war, schließlich konnte ich nicht weiter und mußte es ihr sagen. Außer ihr hat es von mir niemand erfahren, nur meine Schwester.
Es gibt jetzt augenblicklich offenbar nur zwei Möglichkeiten.
Die eine ist, dass wir auseinander gehn. Das scheint Ihnen gnädige Frau soviel ich höre auch am wünschenswertesten zu sein. Auch ich, zu dessen allein vorstellbarer Zukunft J. unbedingt gehört, würde unter zwei Voraussetzungen für das Auseinandergehn stimmen nämlich wenn eine halbwegs begründete nicht allzuferne Aussicht dafür wäre, dass J. einen guten Mann heiratet, mit dem sie einverstanden ist, Kinder bekommt und so rein und anständig mit ihm lebt, als es unter unsern Verhältnissen dem durchschnittlichen Menschen möglich ist. Eine solche Ehe wäre allerdings ein Glück, das mit dem, was heute von mir zu erwarten ist, gar nicht verglichen werden kann. Die zweite Voraussetzung für mein Einverständnis mit der Trennung wäre, wenn mein Glaube irrig wäre, dass J. bei Wegfall aller äußeren Quälerei ihrem mir fast zauberhaften Wesen nach, ohne allzugroßen Glücksverzicht, an Treue und Liebe es sich genügen ließe vorläufig oder immer auch ohne Ehe oder was so heißt. Das sind die zwei Voraussetzungen unter denen ich zustimmen würde. Treffen sie zu, dann bin ich bereit und dränge mich sogar dazu, für die Öffentlichkeit jede Erklärung unseres Auseinandergehns zu unterschreiben oder sonstwie zu bekräftigen und zu verbreiten, gleichgültig wie ihr Inhalt ist, also ob sie mich schändlich, lächerlich oder verächtlich macht. Wie die Erklärung auch sein mag, immer wird sie insoferne wahr sein, als ich J., der Unschuldigsten und Gütigsten, soviel Leid verursacht habe, dass damit verglichen jede bloß gesellschaftliche Buße eine Lächerlichkeit ist.
Stimmen aber diese zwei Voraussetzungen, wie ich glaube, nicht, dann bitte, lassen Sie uns beisammen, so wie wir uns über alle meine Schwäche hinweg, zusammengehörig fühlen. Im Feber will ich mit einigen Hoffnungen für vielleicht ¼ Jahr nach München fahren, vielleicht könnte J., die ja seit jeher auch von Prag fort wollte, auch nach München kommen. Wir würden ein anderes Stück Welt sehn, manches würde sich vielleicht ein wenig ändern, manche Schwäche, manche Angst zumindest ihre Form, ihre Richtung ändern.
Mehr will ich nicht sagen, es scheint mir überhaupt, als hätte ich zuletzt schon zuviel Rohes und Böses gesagt. Seien Sie geduldig, nicht etwa nachsichtig, sondern geduldig und aufmerksam, damit Sie möglichst nichts weglassen und nichts hineinlesen.

24 November 19Ihr herzlich ergebener
Dr. Franz Kafka


Quelle: Wagenbach, Klaus: Julie Wohryzek, die zweite Verlobte Kafkas. In: Born, J. [e.a.], Kafka-Symposion. Berlin, 1965, S. 39 - [53]

Käthe: Quelle: Anthony Northey, "Julie Wohryzek, Franz Kafkas zweite Verlobte", in: Freibeuter, Heft 59, April 1994 zitiert auf <http://www.franzkafka.de/franzkafka/die_frauen/julie_wohryzek/457352>; Stand: Montag, 05. September 2005

Letzte Änderung: 24.11.2015

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