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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla schade dass ich Dich nicht mehr getroffen habe. Ich wollte
Dich bitten heute Fräulein K. zu besuchen. Herr K. hat mir nämlich
heute einen Brief gezeigt, den er vielleicht ihr schreiben wird und in
dem er von ihr Abschied nimmt.
Trotzdem schien er stillschweigend fast darum zu bitten, dass Du sie
heute besuchst. Nach seinen Erzählungen war er natürlich übertrieben
großartig im Recht, soweit es zwischen unsichern aufgeregten Menschen
Recht gibt. Sie fürchtet sich eben gar zu sehr vor jeder Tyrannei,
sieht sie überall und übt die Tyrannei sogar aus, aus keinem
andern Grunde, als um ihr zuvorzukommen. Wenn Du also hingehn willst. -
Ich glaube nicht, dass es einen besondern sachlichen Wert hat, auch
gab es solche Szenen wie gestern nach seinen Erzählungen schon viele,
aber ein Besuch würde doch bedeuten wenigstens den Versuch ihr und
ihm etwas Liebes zu tun
F
Es handelt sich hier um die Beziehung zwischen Kafkas Sekretärin Kaiser
und einem Bürokollegen; wie aus Nr. 60 erschließbar ist, wahrscheinlich
einem Herrn Klein, vgl. auch Nr. 68.
Schon Ende Juni 197 kündigte Kafka seiner Schwester den Besuch seines
"Maschinenfräulein(s)" (T 76; K = Kaiser nach dem Manuskript)
in Zürau an (vgl. Nr. 41), der spätestens im November stattgefunden
haben muß. Kafka schrieb nämlich damals an Max Brod: "heute
hatten wir Besuch, sehr gegen meinen Willen, das Bureaufräulein (nun,
Ottla hatte sie eingeladen), außerdem aber als ein Mitgebrachtes
noch einen Bureauherrn (Du erinnerst Dich vielleicht: wir gingen einmal
in der Nacht mit irgendwelchen Gästen über den Quai, ich drehte
mich nach einem Paar um, das war eben dieses), einen an sich ausgezeichneten
und mir auch sehr angenehmen und interessanten Menschen (katholisch, geschieden),
aber eine Überraschung, wo doch schon ein angemeldeter Besuch Überraschung
genug ist. Solchen Dingen bin ich nicht gewachsen und ich durchlief von
flüchtiger Eifersucht, großer Unbehaglichkeit, Hilflosigkeit
gegenüber dem Mädchen (ich riet ihr, unüberzeugt, den Mann
zu heiraten), bis zu vollständiger Öde den ganzen langen Tag,
wobei ich noch ganz häßliche Zwischengefühle verschweige".
(Br 190 f.) Als Ottla dann am 23. November zu Kafkas Dienststelle ging,
suchte sie auch Fräulein Kaiser auf, wobei sie von ihr ein kleines
Geschenk erhielt (Brief Ottlas an David von diesem Tag), und am 17. Dezember
schrieb Kafka aus Zürau an dieses Mädchen (vgl. H 95), vielleicht
um jetzt, wo seine eigene Entlobung endgültig bevorstand, eine andere
Stellungnahme zu ihrem Problem abzugeben. Im folgenden Jahr muß es
dann zu der von Kafka beschriebenen Krise gekommen sein. Da Kafka zu diesem
Zeitpunkt im Büro tätig und Ottla gleichzeitig in Prag anwesend
gewesen sein muß, kommt als Entstehungszeit des Briefes eigentlich
nur die erste Oktoberhälfte in Betracht.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at