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[An Ottla Kafka]

[Prag, 1. Oktoberhälfte 1918]
 


Liebe Ottla schade dass ich Dich nicht mehr getroffen habe. Ich wollte Dich bitten heute Fräulein K. zu besuchen. Herr K. hat mir nämlich heute einen Brief gezeigt, den er vielleicht ihr schreiben wird und in dem er von ihr Abschied nimmt.

Trotzdem schien er stillschweigend fast darum zu bitten, dass Du sie heute besuchst. Nach seinen Erzählungen war er natürlich übertrieben großartig im Recht, soweit es zwischen unsichern aufgeregten Menschen Recht gibt. Sie fürchtet sich eben gar zu sehr vor jeder Tyrannei, sieht sie überall und übt die Tyrannei sogar aus, aus keinem andern Grunde, als um ihr zuvorzukommen. Wenn Du also hingehn willst. -

Ich glaube nicht, dass es einen besondern sachlichen Wert hat, auch gab es solche Szenen wie gestern nach seinen Erzählungen schon viele, aber ein Besuch würde doch bedeuten wenigstens den Versuch ihr und ihm etwas Liebes zu tun

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Es handelt sich hier um die Beziehung zwischen Kafkas Sekretärin Kaiser und einem Bürokollegen; wie aus Nr. 60 erschließbar ist, wahrscheinlich einem Herrn Klein, vgl. auch Nr. 68.

Schon Ende Juni 197 kündigte Kafka seiner Schwester den Besuch seines "Maschinenfräulein(s)" (T 76; K = Kaiser nach dem Manuskript) in Zürau an (vgl. Nr. 41), der spätestens im November stattgefunden haben muß. Kafka schrieb nämlich damals an Max Brod: "heute hatten wir Besuch, sehr gegen meinen Willen, das Bureaufräulein (nun, Ottla hatte sie eingeladen), außerdem aber als ein Mitgebrachtes noch einen Bureauherrn (Du erinnerst Dich vielleicht: wir gingen einmal in der Nacht mit irgendwelchen Gästen über den Quai, ich drehte mich nach einem Paar um, das war eben dieses), einen an sich ausgezeichneten und mir auch sehr angenehmen und interessanten Menschen (katholisch, geschieden), aber eine Überraschung, wo doch schon ein angemeldeter Besuch Überraschung genug ist. Solchen Dingen bin ich nicht gewachsen und ich durchlief von flüchtiger Eifersucht, großer Unbehaglichkeit, Hilflosigkeit gegenüber dem Mädchen (ich riet ihr, unüberzeugt, den Mann zu heiraten), bis zu vollständiger Öde den ganzen langen Tag, wobei ich noch ganz häßliche Zwischengefühle verschweige". (Br 190 f.) Als Ottla dann am 23. November zu Kafkas Dienststelle ging, suchte sie auch Fräulein Kaiser auf, wobei sie von ihr ein kleines Geschenk erhielt (Brief Ottlas an David von diesem Tag), und am 17. Dezember schrieb Kafka aus Zürau an dieses Mädchen (vgl. H 95), vielleicht um jetzt, wo seine eigene Entlobung endgültig bevorstand, eine andere Stellungnahme zu ihrem Problem abzugeben. Im folgenden Jahr muß es dann zu der von Kafka beschriebenen Krise gekommen sein. Da Kafka zu diesem Zeitpunkt im Büro tätig und Ottla gleichzeitig in Prag anwesend gewesen sein muß, kommt als Entstehungszeit des Briefes eigentlich nur die erste Oktoberhälfte in Betracht.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at