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[Das vierte Oktavheft: 25. Februar 1918; Montag]


25. Februar. Morgenklarheit.


Es ist nicht Trägheit, böser Wille, Ungeschicklichkeit-wenn auch von alledem etwas dabei ist, weil »das Ungeziefer aus dem Nichts geboren wird« - welche mir alles mißlingen oder nicht einmal mißlingen lassen: Familienleben, Freundschaft, Ehe, Beruf, Literatur, sondern es ist der Mangel des Bodens, der Luft, des Gebotes. Diese zu schaffen ist meine Aufgabe, nicht damit ich dann das Versäumte etwa nachholen kann, sondern damit ich nichts versäumt habe, denn die Aufgabe ist so gut wie eine andere. Es ist sogar die ursprünglichste Aufgabe oder zumindest ihr Abglanz, so wie man beim Ersteigen einer luftdünnen Höhe plötzlich in den Schein der fernen Sonne treten kann. Es ist das auch keine ausnahmsweise Aufgabe, sie ist gewiß schon oft gestellt worden. Ob allerdings in solchem Ausmaß, weiß ich nicht. Ich habe von den Erfordernissen des Lebens gar nichts mitgebracht, so viel ich weiß, sondern nur die allgemeine menschliche Schwäche. Mit dieser-in dieser Hinsicht ist es eine riesenhafte Kraft - habe ich das Negative meiner Zeit, die mir ja sehr nahe ist, die ich nie zu bekämpfen, sondern gewissermaßen zu vertreten das Recht habe, kräftig aufgenommen. An dem geringen Positiven sowie an dem äußersten, zum Positiven umkippenden Negativen, hatte ich keinen ererbten Anteil. Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang.


Er fühlte es an der Schläfe, wie die Mauer die Spitze des Nagels fühlt, der in sie eingeschlagen werden soll. Er fühlte es also nicht.


Niemand schafft hier mehr als seine geistige Lebensmöglichkeit; daß es den Anschein hat, als arbeite er für seine Ernährung, Kleidung und so weiter, ist nebensächlich, es wird ihm eben mit jedem sichtbaren Bissen auch ein unsichtbarer, mit jedem sichtbaren Kleid auch ein unsichtbares Kleid und so fort gereicht. Das ist jedes Menschen Rechtfertigung. Es hat den Anschein, als unterbaue er seine Existenz mit nachträglichen Rechtfertigungen, das ist aber nur psychologische Spiegelschrift, tatsächlich errichtet er sein Leben auf seinen Rechtfertigungen. Allerdings muß jeder Mensch sein Leben rechtfertigen können (oder seinen Tod, was dasselbe ist), dieser Aufgabe kann er nicht ausweichen.

Wir sehen jeden Menschen sein Leben leben (oder seinen Tod sterben). Ohne innere Rechtfertigung wäre diese Leistung nicht möglich, kein Mensch kann ein ungerechtfertigtes Leben leben. Daraus könnte man in Unterschätzung des Menschen schließen, daß jeder sein Leben mit Rechtfertigungen unterbaut.


Psychologie ist Lesen einer Spiegelschrift, also mühevoll, und was das immer stimmende Resultat betrifft, ergebnisreich, aber wirklich geschehn ist nichts.


Nach dem Tod eines Menschen tritt selbst auf Erden hinsichtlich des Toten für eine Zeitspanne eine besondere wohltuende Stille ein, ein irdisches Fieber hat aufgehört, ein Sterben sieht man nicht mehr fortgesetzt, ein Irrtum scheint beseitigt, selbst für die Lebenden eine Gelegenheit zum Atemschöpfen, weshalb man auch die Fenster des Sterbezimmers öffnet,-bis sich dann alles doch nur als Schein ergibt und der Schmerz und die Klagen beginnen.


Das Grausame des Todes liegt darin, daß er den wirklichen Schmerz des Endes bringt, aber nicht das Ende.


Das Grausamste des Todes: ein scheinbares Ende verursacht einen wirklichen Schmerz.


Die Klage am Sterbebett ist eigentlich die Klage darüber, daß hier nicht im wahren Sinn gestorben worden ist. Noch immer müssen wir uns mit diesem Sterben begnügen, noch immer spielen wir das Spiel.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at