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An Felix Weltsch

[Zürau, Anfang Februar 1918]
 

Lieber Felix, viel Zeit habe ich, da hast Du Recht, aber eigentlich freie Zeit, so dass ich frei tun könnte, was ich wollte, ist es nicht. Du überschätzest mich, wenn Du das glaubst. Die Tage vergehn so rasch, und noch rascher, wenn man an einem Tag, wie das manchmal geschieht, alles zu verlieren glaubt, zu dessen Erwerbung man alle vorhergehenden Tage verbraucht hat. Aber das kennst Du ebenso gut und es läßt sich überwinden, aber viel freie Zeit ist es nicht.

Natürlich bist Du jetzt übertrieben beschäftigt, das sehe ich besser ein als Du, und jede Woche, nicht unter dem Schutz eines Amtes, sondern allein unter persönlicher Verantwortung, vor Leute zu treten, die auf ihrer Forderung bestehen, Wesentliches von Dir zu erfahren, und denen Du selbst dieses Recht in jeder Hinsicht gibst, - das ist etwas sehr Großes, fast Geistliches. Ich stehe so unter dem Eindruck dessen, dass ich wieder davon geträumt habe. Allerdings war es etwas Botanisches, was Du vorgetragen hast (sag es dem Professor Krause), irgendeine löwenzahnähnliche Blume oder vielmehr einige von dieser Art hieltest Du dem Publikum entgegen; es waren vereinzelte große Exemplare, die eins über dem andern, vom Podium bis zur Decke, dem Publikum entgegengehalten wurden; wie Du das allein mit Deinen zwei Händen machen konntest, verstand ich nicht. Dann kam von irgendwo aus dem Hintergrund (eben waren Masken da, eine grauenhafte Unsitte, das wiederholt sich fast jeden Abend einige Male. Es ist eine Prüfung, vor die man gestellt wird, denn die Masken schweigen, um sich nicht zu verraten, gehr im Zimmer herum als Eigentümer und man muß sie unterhalten und besänftigen) oder vielleicht aus den Blumen selbst ein Licht und sie strahlten. Auch über das Publikum machte ich einige Beobachtungen, habe sie aber vergessen.

Das Wesentliche, die Vorträge selbst, erwähnst Du gar nicht und gerade darum hatte ich doch gebeten, aber wahrscheinlich ist es jetzt unmöglich und Du schickst mir, wenn Du einmal mit den Vorträgen fertig bist, die vollständigen Manuskripte. Kannst Du aber schon früher etwas Annäherndes tun, tu's.

Das was ich dem Oskar ins Ohr gesetzt haben soll, hat der arme Mensch reichlichst schon nach Zürau mitgebracht. Sehr gerne wußte ich wie es ihm geht, aber ich komme möglicher Weise schon nächste Woche (wegen des Militärs, wenn's sein muß) nach Prag. Von Max hatte ich letzthin einen überraschend ruhigen Brief.

Der Sohn meines Oberinspektors ist durchgerutscht. Dank habe ich zwar bekommen, aber irgendetwas Außergewöhnliches scheint nicht bemerkt worden zu sein. Der Junge, der über den Ausgang der Sache sehr traurig ist, tröstet sich damit, dass er nur deshalb weggeschickt worden ist, weil er einer der Letzten war.

Ich glaube augenblicklich völlig gesund zu sein bis auf einen nicht heilen-wollenden Daumen, den ich mir bei ein paar Spatenstichen im Garten aufgerissen habe. Schwach bin ich, kann es an Arbeitskraft nicht mit dem kleinsten Bauernmädchen aufnehmen. So war es allerdings auch früher, aber im Angesicht der Felder ist es beschämender, und traurig auch deshalb, weil es alle Lust nimmt, etwas derartiges zu tun. Und so ergibt sich auf diesem Umweg was auch früher war: ich sitze lieber im Lehnstuhl am Fenster und lese oder lese nicht einmal.

Herzliche Grüße

Franz




Professor Krause: Oskar Kraus, Professor für Philosophie in Prag. Er hatte Felix Weltsch, seinen ehemaligen Schüler, wegen der im Briefwechsel erwähnten politischen und literarischen Vorträge ironisch zur Rede gestellt; Kafka schlagt vor, ihm "sogar" von botanischen Vorlesungen zu berichten


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at