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An Oskar Baum

[Zürau, Mitte Januar 1918]
 

Lieber Oskar, zuerst meinen Dank für die großartige Beschenkung. Wenn ich bedenke, dass Du für das schöne und selbstverleugnende Klavierspiel nichts bekommen hast als das Vergnügen, mich mit Herrn R. sprechen zu hören (ich hätte ihm gern Deine Mitteilung ausgerichtet, aber ich verstehe sie nicht), ich dagegen Ottla diese zwei Überraschungen aus dem Koffer ganz unerwartet ziehen sehe, nur verdient durch meine Lust, - dann finde ich (immer wieder einmal), dass etwas in der Welt nicht stimmt. Besonders der Himbeersaft, ein reiner Genuß vom ersten Tropfen bis zum letzten; fast hätte ich mir ihn infolge meiner Gier verdorben, als ich aus Ungeduld den Pfropfen in die Flasche stieß, aber Ottla hats noch für mich gerettet und rettet es jeden Tag durch Verzicht. Und noch etwas Gutes hat der Saft, da er eben etwas Edles ist, er nimmt sogar die Gier nach sich selbst und ich trinke ihn jetzt nur noch aus Freiheit und weil er da ist und weil er an eine Wohltat erinnert.

Hier hat sich, wie es sich gehört, nichts geändert, außer dass Du fort bist; wenn Du also wiederkommst, wird alles vollständig wie früher sein, Du brauchst nur zu kommen. Ich nur bin, vielleicht, um von vornweg dem Namen Glückskind auszuweichen, in den letzten Tagen etwas trübseliger als sonst, aber das ist nur das Auf und Ab der Zeiten.

Du aber hattest Glück, weil Du die Mäuse nicht erlebt hast. Etwa drei Tage nach Deiner Abreise - den Kater nehme ich nicht mehr mit - werde ich in der Nacht durch Lärm geweckt, zuerst denke ich fast, es müsse doch der Kater sein, bis es gleich klar wird, dass eine Maus, schamlos wie ein kleines Kind, mit der Falle spielt, d. h. sie zupft vorsichtig den Speck fort, während die Falltür laut auf und ab klappt, aber ohne sich so weit zu öffnen, dass die Maus durchfällt. Die von Max in gutem Glauben empfohlene Falle ist mehr Wecker als Falle. Übrigens wurde in der nächsten Nacht auch aus einer anderen Falle der Speck gestohlen. Ich hoffe, dass Du nicht glaubst, ich schleiche im Halbschlaf unter die Kredenz und hole selbst den Speck heraus. Übrigens ist es in den allerletzten Tagen still geworden.

Die sizilianische Sängerin spricht also schlecht vom Tagebuch. Ist das merkwürdig oder herz- und verständnislos? Herz- und verständnislos ist es, ihr das Buch zur Besprechung zu geben, ebenso gut hätte man es der Gräfin Tolstoi geben können. Was soll die Frau sagen, wenn sie plötzlich in das Tagebuch hineinkommt, noch erhitzt vom Tennisspiel, das sie unter seinem Fenster gespielt hat. "Konservatismus schadet der Kunst immer" ist übrigens fast ein Zitat aus dem Tagebuch selbst, wir haben es gelesen.

Wie ist Krastik in Prag mit Dir angekommen? Und das Buch der dramatischen Geschichten? Hat Wolff geschrieben? Und der Schlaf?

Mit herzlichen Grüßen Dir und Deiner Frau.

Franz




Tagebuch: von Leo Tolstoi


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at