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[Rekommandierter Brief. Zürau, Anfang April 1918]

[An.] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirktion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P Flöhau


Mein lieber Max, war mein Brief gar so unprivat?, schwer verständlich gelegentlich Kierkegaards, leicht verständlich im Hinblick auf mich. Bedenke auch, dass es jetzt die Zeit einer Art Abschied vom Dorf ist, in Prag macht man die beste Politik, die man (vorausgesetzt, dass man mich behalten will) machen kann: man schweigt, duldet, zahlt, wartet. Das ist nicht leicht auszuhalten und ich bin nächsten Monat vielleicht wieder Beamter in Prag.

    Dank für die Briefe, die beiliegen. Picks Brief gehört nicht zu den schlechten Kriegsfolgen, wenn man auch merkt, wie ihn Dein voriger Brief, den ich nicht kenne, an der Hand führt und außerdem gerade die wesentlichsten Bedenken etwas unklar bleiben, ohne dass sie ihm unklar sein müßten. Im übrigen wiederholt sich mir immer das Gleiche: am Werk wird der Schriftsteller nachgeprüft; stimmt es, so ist es gut; ist es in einer schönen oder melodischen Nichtübereinstimmung, ist es auch gut; ist es aber in einer sich reibenden Nichtübereinstimmung, ist es schlecht. Ich weiß nicht, ob solche Prinzipien überhaupt anwendbar sind, gern würde ich es leugnen, vorstellbar wäre es mir aber für eine von lebendiger Idee geordnete Welt, wo die Kunst den mir aus Erfahrung unbekannten Platz hätte, der ihr gebührt. (Inzwischen war ich mit der Stute in einem Dorf Schaab beim Hengst, jetzt ist es im Zimmer schon zu kalt, hier im Garten in einem halbfertigen Gurkenbeet aber noch sehr warm. Ziegenmist, den Ottla gerade hergeführt hat, sticht mir sehr in die Nase.) Ich meine: eine Analyse, wie sie für die Anwendung jener Prinzipien Voraussetzung wäre, ist uns gegenüber nicht möglich, wir bleiben immer ganz (in diesem Sinn), wir haben, wenn wir etwas schreiben, nicht etwa den Mond ausgeworfen, auf dem man Untersuchungen über seine Abstammung machen könnte, sondern wir sind mit allem, was wir haben, auf den Mond übersiedelt, es hat sich nichts geändert, wir sind dort, was wir hier waren, im Tempo der Reise sind tausend Unterschiede möglich, in der Tatsache selbst keine, die Erde, die den Mond abgeschüttelt hat, hält sich selbst seitdem fester, wir aber haben uns einer Mondheimat halber verloren, nicht endgültig, hier gibt es nichts Endgültiges, aber verloren. Darum kann ich auch Deine Unterscheidung zwischen Wille und Gefühl hinsichtlich des Werkes nicht mitfühlen (oder vielleicht nur infolge der Namengebung und außerdem, zur Einschränkung, spreche ich doch eigentlich nur für mich, hole also zu weit aus, kann aber nicht anders, habe keinen anderen Gesichtskreis). Wille und Gefühl, alles ist immer und richtig als ein Lebendiges vorhanden, hier läßt sich nichts trennen (erstaunlich, jetzt komme ich ohne es gewußt zu haben, zu einem ähnlichen Schluß wie Du), die einzige Trennung, die gemacht werden kann, die Trennung von der Heimat ist schon vollzogen, kann vom Kritiker schon mit geschlossenen Augen festgestellt, aber niemals in ihren, gegenüber der Unendlichkeit auch ganz unwesentlichen Unterschieden bewertet werden. Darum scheint mir jede Kritik, die mit Begriffen von Echt, Unecht umgeht, und Wille und Gefühl des nicht vorhandenen Autors im Werk sucht, ohne Sinn und eben nur dadurch zu erklären, dass auch sie ihre Heimat verloren hat und alles eben in einer Reihe geht, ich glaube natürlich: die bewußte Heimat verloren hat.

    In Königsberg wird es eine noch größere Probe des Theaters und Publikums werden. Fahr Max mit allen meinen guten Wünschen hin.

Franz        
 


Großen Eindruck hat Deine Erwähnung des Ehrenfels auf mich gemacht. Könntest Du mir das Buch borgen? Im übrigen: alle bestellten Bücher bleiben aus, niemand liefert.

Grüße Felix



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Ehrenfels . . . Buch: Es handelt sich um Christian von Ehrenfels, Kosmogonie, Jena: Diederichs 1916. Vgl. SL 218: "Die "Kosmogonie" von Ehrenfels ist ein Dokument dieser Generation, der zum erstenmal Weltuntergangsstimmung in die Knochen gefahren war . . ."


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at