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Brief an Max Brod

[Zürau, ca. 5.3.1918]


Lieber Max, ich antworte gleich, trotz des so schönen Tags. Mein Schweigen mißverstehst Du, nicht Rücksicht auf Dich war es, die hätte sich besser im Verzicht auf Antwort ausgedrückt, es war Unfähigkeit; drei Briefe habe ich in der langen Zeit begonnen und ließ es, es war Unfähigkeit, aber nicht "Verblassung" richtig verstanden, es war "meine Sache", die sich mit großer Anstrengung (weil ich selbst dieses Einfache nur mit großer Anstrengung kann, zum Unterschied vom glücklich-unglücklich fortgetragenen Kierkegaard, der das urlenkbare Luftschiff so wunderbar dirigiert, trotzdem es ihm auf das gar nicht eigentlich ankommt und man in seinem Sinn das nicht können dürfte, worauf es nicht eigentlich ankommt) sagen, aber nicht mitteilen läßt, aber dann bin ich erst recht unfähig, es zu sagen. Und das Schweigen gehört auch zum Land hier, gehört dazu, wenn ich von Prag komme (nach der letzten Fahrt kam ich förmlich wie vollgetrunken an, so als wäre ich in Zürau beispielsweise zu dem Zweck, um nüchtern zu werden und machte, wenn ich erst auf dem Wege zur Nüchternheit wäre, immer gleich die Fahrt nach Prag, um mich vorzeitig wieder vollzutrinken), es gehört aber auch dazu, wenn ich längere Zeit hier bin, immer. Es ergibt sich von selbst, meine Welt wird durch die Stille immer ärmer; ich habe es immer als mein besonderes Unglück gefühlt, dass ich (Verkörperlichung der Symbole!) förmlich nicht genug Lungenkraft hatte, der Welt die Mannigfaltigkeit für mich einzublasen, die sie ja, wie die Augen lehren, offenbar hat; jetzt gebe ich mir diese Mühe nicht mehr, sie entfällt aus meinem Stundenplan des Tages und er wird deshalb nicht trüber. Aber aussagen kann ich womöglich noch weniger als damals, und was ich sage, ist fast gegen meinen Willen.

    In Kierkegaard habe ich mich möglicherweise wirklich verirrt, ich bemerkte das mit Staunen, als ich Deine Zeilen über ihn las. Es ist tatsächlich so wie Du sagst: Das Problem seiner Ehe-Verwirklichung ist seine Hauptsache, seine bis ins Bewußtsein immerfort hinaufgetragene Hauptsache, ich sah das in "Entweder - Oder", in "Furcht und Zittern", in "Wiederholung" (die letzten habe ich in diesen vierzehn Tagen gelesen, "Stadien" bestellt), ich aber habe es - trotzdem mir Kierkegaard jetzt immer irgendwie gegenwärtig ist - wahrhaftig vergessen, so sehr treibe ich mich anderswo herum, ohne allerdings jemals völlig außer Verbindung damit zu kommen. Die "körperliche" Ähnlichkeit mit ihm, wie sie mir eben etwas nach jenem kleinen Buch "Kierkegaards Verhältnis zu "ihr" (Inselverlag - ich habe es ja hier, ich werde es Dir schicken, wesentlich ist es aber nicht, es wäre denn später zur Nachprüfung -) erschien, ist jetzt ganz verschwunden, aus dem Zimmernachbar ist irgendein Stern geworden, sowohl was meine Bewunderung, als eine gewisse Kälte meines Mitgefühls betrifft. Im übrigen wage ich nichts Bestimmtes zu sagen, außer den genannten Büchern kenne ich nur das letzte "Der Augenblick" und es sind das wirklich zwei sehr verschiedene Gläser ("Entweder - Oder" und "Augenblick"), durch die man dieses Leben nach vorwärts oder rückwärts und natürlich auch nach beiden Richtungen zugleich untersuchen kann. Aber nur negativ kann man ihn gewiß weder hier noch dort nennen, in "Furcht und Zitterns z. B. (das Du jetzt lesen solltest) geht seine Positivität ins Ungeheuerliche und macht erst vor einem - gewöhnlichen Steuereinnehmer halt, wenn es nicht eben ein Einwand - so meine ich es - gegen die Positivität wäre, dass sie sich zu hoch versteigt; den gewöhnlichen Menschen (mit dem er übrigens merkwürdigerweise so gut sich zu unterhalten verstand) sieht er nicht und malt den ungeheueren Abraham in die Wolken. Aber negativ darf man ihn doch deshalb nicht nennen (außer höchstens mit der Terminologie seiner ersten Bücher) und wer könnte sagen, was das alles war: seine Schwermut.

    Was die vollkommene Liebe und Ehe betrifft, seid ihr übrigens auf dem Boden des "Entweder - Oder" wohl einig, nur der Mangel der vollkommenen Liebe macht A. zur vollkommenen Ehe des B. unfähig. Das erste Buch von "Entweder - Oder" kann ich aber noch immer nicht ohne Widerwillen lesen.

    Oskars Empfindlichkeit verstehe ich (abgesehen davon, dass man ihn nicht mit etwas Miserablem, so erschien ihm der andere wenigstens, hätte zusammenbringen sollen) so, dass er es derartig schmerzlich fühlt (sich zu etwas, was ihm von allem Anfang nicht richtig erschien, habe drängen lassen), dass er nicht bei der Selbstquälerei stehen bleiben kann, sondern auch noch Dich ein wenig quält. In dieser Hinsicht kann ich ihn verstehn und diese Dinge auch nicht für nichtig halten.

    Von Pick bekam ich glücklicherweise noch nichts, würde wahrscheinlich freundlich ablehnen, ein Reiz, der mich nicht irre führt, der aber wirklich groß ist. Für Dich dürfte er aber nicht gelten. (Vom Reiss-Verlag bekam ich eine freundliche Einladung, von Wolff nach der ersten Korrektursendung nichts mehr.)

    Liebstöckls Notiz über Dich war ein widerlicher Haßausbruch, auch in der Widerlichkeit der Schreibweise von der übrigen Jenufa-Kritik unterschieden. Die Antwort hat ihn meinem Gefühl nach ein wenig unterstützt, indem sie dem Leser erst zu Bewußtsein brachte, dass man auch über solches Zeug diskutieren kann.

Viel Glück und Freude in Deutschland!

Dein Franz        
 


[Randnotizen:] Grüße bitte auch Felix und Oskar, ich weiß nicht, ob ich ihnen bald genug schreiben werde.

Hast Du Pfemfert, bitte, wegen des Rubinerschen Tolstoi-Tagebuches gefragt?

Von was für Laufereien, Plagen sprichst Du? -

Das Verhältnis zur Anstalt ist weiterhin mein Leid. Ich halte mich hier, solange ich kann. -

Vielen Dank für die zwei Sendungen, Du bist sehr gut zu mir, nur solltest Du nicht von "Veränderung, Verblassung" sprechen.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Wiederholung" ... die letzten: Die beiden Schriften Kierkegaards "Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio" und "Wiederholung. Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie von Constantin Constantius" waren als Band 3 der Gesammelten Werke bei Diederichs in Jena erschienen. Vgl. Anm.41 oben.


"Stadien": Siehe Anm.41 oben.


"Kierkegaards Verhältnis zu "ihr"": Sören Kierkegaard und sein Verhältnis zu "ihr". Aus nachgelassenen Papieren. Hrsg. im Auftrage der Frau Regine Schlegel u. verdeutscht von Raphael Meyer, Stuttgart: Junkker 1905. Kafkas (irrtümliche) Angabe des Inselverlags könnte bedeuten, dass er ebenfalls Sören Kierkegaards Verhältnis zu seiner Braut. Briefe und Aufzeichnungen aus seinem Nachlaß, hrsg. von Henriette Lund, Leipzig: Insel 1904 gekannt hat.


"Der Augenblick": Band 12 der Gesammelten Werke (siehe Anm.41 oben). Unter dem "Augenblick" verstand Kierkegaard den Punkt, in dem sich Zeit und Ewigkeit berühren. Vgl. hierzu Kafkas Aufzeichnungen vom 7. Februar 1918 (H 109-112; das Wort "Einigkeit" auf S.110 und 111 ist als "Ewigkeit" zu lesen).


einem-gewöhnlichen Steuereinnehmer: Kafka bezieht sich anscheinend auf eine Stelle am Schluß der Vorrede zu Furcht und Zittern: "Ich werfe mich in tiefster Untertänigkeit einem jeden systematischen Taschengucker (Zollbeamten) zu Füßen: "Es ist kein System, es hat nicht das mindeste mit einem System zu schaffen.""


Oskars Empfindlichkeit: Siehe Anm.42 oben.


Von Pick: Siehe Brods Brief vom 3. März und Anm.45 oben. Kafka muß Picks Einladung später bekommen und - wie Brod - abgelehnt haben (siehe Anm. 71 unten).


Vom Reiss Verlag: Der Berliner Verleger Erich Reiß hatte ihm am 26. Februar 1918 geschrieben: "Ich interessiere mich für Ihre Arbeiten ganz besonders und würde mich freuen, dieselben zu verlegen."


Liebstöckls Notiz: Siehe Anm.46 oben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at