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[Stempel: Flöhau, 20.1.18]

[An.] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P. Flöhau b. Podersam


Lieber Max, Dein Brief war mir diesmal (wieder zunächst ohne Rücksicht auf die Mitteilungen, das sagte ich schon öfters und fühle es sehr deutlich) deshalb besonders wichtig, weil ich in der letzten Zeit zwei oder drei Unglücksfälle oder vielleicht auch nur einen hatte, die die ständige Verwirrung so sehr vergrößerten, als wäre ich z. B. aus der letzten Gymnasialklasse durch einen in seiner Begründung mir unzugänglichen Lehrbeschluß in die erste Volksschulklasse degradiert worden. Und dabei sind es, damit Du mich richtig verstehst, nur gewissermaßen Unglücksfälle, ich achte ihr Gutes und kann mich über sie freuen und habe es getan, aber in der Grenze des "gewissermaßen" sind sie allerdings vollständig.

    Der eine und hauptsächliche ist Oskars Besuch. Ich habe von dem Wesen der Sache während seiner Anwesenheit nicht das Geringste gefühlt oder vielleicht nur etwas, ein Kleines, während des letzten Tags, aber hier war es nur das gewöhnliche nicht weiter nachprüfenswerte Gefühl einer Schwäche, einer Ermüdung, wie es sich eben zwischen zwei Menschen ausdrücklicher zeigt, als innerhalb des Einzelnen. Wir waren auch die Woche über lustig, vielleicht allzu lustig, nachdem wir an den allerersten Tagen uns an Oskars Unglück müdegedacht hatten. Ich ermüde übrigens erfahrungsgemäß leichter als irgendjemand aus meiner Bekanntschaft. Aber davon ist hier eigentlich nicht zu reden und würde es doch ausgebreitet, so würde sich dadurch gewiß auch rein Historisches aus alter Leidensgeschichte finden.

    Auch Oskars Unglück gehört nicht genau in diesen Zusammenhang. Aber Du fragst mich danach und ich habe es bisher nur deshalb allgemein erwähnt, weil es mir noch kurz vorher nicht gerade als Geheimnis, aber doch als Geständnis anvertraut war, weil ich ferner nicht wollte, dass Du gleich bei der ersten Zusammenkunft mit Oskar diese Gedanken im Kopfe hast und weil es schließlich auch deshalb nicht sehr notwendig war, weil Du in dem Fall dem Richtigen doch immer sehr nahe gewesen bist. Das Unglück hat, wenn man will, drei Ansichten (vorläufig soll es aber wirklich unser Geheimnis sein), wird aber noch mehrfacher, wenn man genauer zusieht. Erstens kann er die Ehe mit seiner Frau aus einer Reihe unzähligemal durchdachter Ursachen nicht ertragen, kann es schon, ich glaube er ist sieben Jahre verheiratet, seit fünf Jahren nicht. Zweitens ergibt sich, wenn man danach fragt, dass er zwar immer zuerst von den Unmöglichkeiten seiner Frau spricht (die ihm übrigens sexuell vollständig entspricht und die er in ihren Grenzen sehr liebenswert findet) aber die Unmöglichkeit der Ehe meint, der Ehe überhaupt. Gewiß bleibt hier ein ungelöster Rest, für den z. B. charakteristisch ein novellistischer Versuch ist, den er einmal über das Thema einer Reihenfolge eigener Heiraten mit einer Reihe ihm gut bekannter Frauen und Mädchen gemacht hat, wobei sich immer am Ende vollständige Unmöglichkeit ergab. Drittens würde er, hier beginnen die ganz großen Unsicherheiten, seine Frau vielleicht verlassen können, er glaubt innere und äußere Berechtigungen zu dieser als schwere Grausamkeit gefühlten Tat zu haben, gegenüber seinem Sohn aber kann er, wenn auch nicht eigentlich aus Vatergefühl, diese Schuld nicht auf sich nehmen, trotzdem er weiß, dass dieses Auseinandergehn das einzig Richtige wäre und das Versäumen dessen ihn niemals zur Ruhe kommen lassen wird. - Im Ganzen insbesondere mit seiner Fülle "diesseitiger" Konstruktionen und Nachtgespenster (wir schliefen im gleichen Zimmer und tauschten Krankheitskeime gegen Gespenster aus) gehört er mit seinen nicht annähernd nachzufühlenden Qualen eng zum Dr.Askonas, wie dieser eng zu unserer westjüdischen Zeit. In diesem Sinn, also einem sozialgeistigen etwa, ist der Roman ein großartig offenes Wort und wird sich, wenn er das ist, erst während der Wirkung in die Weite eigentlich offenbaren. Mehr als dieses Konstatieren, als dieses der-Zeit-an-die-Seite-springen ist er vielleicht nicht, aber auch das kann ein großer Beginn sein. Wir sprachen in den ersten Nächten von dem Roman wie von einem historischen Dokument, das man verwendete, um dieses oder jenes zu belegen. So war es ja auch mit Nornepygge, aber damals war ich noch zu wenig davon berührt.

    Was nun mich in meinem Verhalten gegenüber Oskars Sache betrifft, so war dieses, wenigstens in der Absicht, ganz einfach, es schwankte, bei innerlicher aber doch vielleicht vorurteilsmäßiger Entschiedenheit, mit seinem Schwanken, ich sagte "ja" und "nein", wenn ich "ja" und "nein" zu hören glaubte und nur dieses zu-hören-glauben war mein Werk, genug, um ihn gut oder schlecht zu beeinflussen und darüber eben wollte ich gern etwas von Dir hören. Außerdem wirkte halb unabhängig von meiner Absicht Zürau und mit Zürau das, was sich mir bis dahin hier ergeben hatte, mit. Auch Troeltsch und Tolstoi, die ich ihm vorlas.

    Bei dem allen ergab sich aber eine Rückwirkung auf mich, die ich erst nachher merkte. Ich hatte den Besuch als Prüfung halbwegs bestanden, aber nachher, als schon abgeläutet worden war, fiel ich durch. Letzthin schrieb ich Oskar, dass es schwer ist sich umzustellen, wenn man eine Woche lang beisammen war und dass er uns fehlt. Das ist, auch was mich allein betrifft, wahr, aber doch nur im mit der Woche Zusammenlebens und überdies ist es nicht alles. Ich trage noch immer an dem Zusammensein mit diesem mir doch lieben Menschen und zwar nicht in dem Sinne, dass, ich unter seinem Leiden leide oder dass irgendein konkretes eigenes Leid mitaufgerührt worden ist, sondern dass, fast ganz abstrakt, seine Denkrichtung, das prinzipiell Verzweifelte seines Zustandes, die bis nahe an die durchgeführte Nachweisung gehende Unauflösbarkeit seines Konfliktes, das Durcheinander seiner an sich sinnlosen, beleidigenden, vielfach sich spiegelnden, gegenseitig aufeinander kletternden - Fachwort aus Deinem Roman - Hilfskonstruktionen, dass das alles in mich ausmündet wie ein toter Wasserarm, den eine Woche zu einem lebendigen gemacht hat. Was für eine Riesenstärke gehört dazu, was für Riesenstärke und vorgängige Einsamkeit, um einem Menschen nicht zu erliegen, neben dem man eine Zeitlang geht mitten zwischen den fremd-eigenen Teufeln, nicht weniger ihr Mittelpunkt, als ihr eigentlicher Besitzer es ist.

    Ich übertreibe hier ein wenig, anderes kommt gewiß noch dazu, aber die Grundwahrheit bleibt. Und überdies habe ich zum Teil als Folge des Besuches "Entweder - Oder" mit besonderer Hilfsbedürftigkeit am Abend vor Oskars Abreise zu lesen angefangen und jetzt, von Oskar geschickt, Bubers letzte Bücher. Abscheuliche, widerwärtige Bücher, alle drei zusammen. Richtig und genau sind sie und "Entweder - Oder" besonders mit allerspitzigster Feder geschrieben (fast der ganze Kassner wälzt sich einem aus ihm entgegen), aber sie sind zum Verzweifeln und wenn man vor ihnen einmal, wie es bei gespanntem Lesen vorkommen kann, unbewußt das Gefühl hat, es seien die einzigen Bücher auf der Welt, muß auch der gesündesten Lunge fast der Atem ausgehn. Das würde natürlich ausführliche Erklärung verlangen, nur mein sonstiger Zustand erlaubt mir so zu sprechen. Es sind Bücher, die sowohl geschrieben als auch gelesen werden können nur in der Weise, dass man wenigstens eine Spur wirklicher Überlegenheit über sie hat. So aber wächst mir ihre Abscheulichkeit unter den Händen.

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    In Deiner Sache überzeugst Du mich nicht. Ob Du mich nicht mißverstehst, so dass wir uns etwa schon irgendwo begegnet wären, ohne es zu wissen? Ich behaupte nicht, dass Du Deine Frau um der Literatur willen geheiratet hast, sondern trotz der Literatur und dass Du, weil Du auch aus ehrlichem Grunde heiraten mußtest, dieses "trotz" dadurch vergessen zu machen suchtest, dass Du eine literarische "Vernunftheirat" (Deiner Meinung nach) eingingst. Du brachtest "Vernunftgründe" in die Ehe mit, da Du eben aus vollem Bräutigamsherzen nicht heiraten konntest. Und ähnlich scheint es sich mir auch jetzt zu verhalten. Du schwankst, so scheint es mir, nicht zwischen den zwei Frauen, sondern zwischen Ehe und Außer-Ehe. Dieses Schwanken soll die Frau, ohne eines der zwei Elemente zu verletzen, zur Festigkeit bringen, das ist Dein Verlangen nach der "Führerin", aber abgesehen davon ob dieser Konflikt überhaupt mit einem Schlage zu lösen ist, so ist diese Lösung vielleicht überhaupt nicht Aufgabe des Frauentums, sondern Deine, und dieser Versuch der Abwälzung wäre dann eine Art Schuld.

    Sie setzt sich gewissermaßen auch darin fort, was Du nicht mehr Schuld, oder richtiger auch Schuld, aber auch Güte nennst. Gewiß bist Du weichherzig, aber hier ist keine Gelegenheit, es zu bewähren. Es ist so wie wenn ein Chirurg, nachdem er (mit Gewissensbissen vor dem Prinzip, aber nicht eigentlich vor dem durch Krankheit schuldtragenden Lebewesen) tapfer kreuz und quer geschnitten und gestochen hat und nun aus Weichherzigkeit, aber auch aus Trauer weil dieser wichtige Fall dadurch für immer verabschiedet würde ("meine Frau müßte, ohne die sekundär-geistigen Beziehungen zu mir zu lösen...") zögert, den letzten vielleicht heilenden, vielleicht Siechtum verursachenden, vielleicht tötenden, aber jedenfalls entscheidenden Schritt zu tun.

    Ich kenne "die versunkene Glocke" nicht, aber nach dem was Du sagst, nehme ich den Konflikt als Deinen, kann aber nur zwei Menschen in ihm gefangen sehn, denn die auf den Bergen ist kein Mensch.

    Und Olga? Sie ist nicht primär geformt, sondern bewußt als Gegenspiel Irenes, als Rettung vor ihr.

    Aber abgesehen von dem allen: was Dir hier erscheint und mit Gewißheit erscheint: "im Eros Ruhe, völliger Frieden" ist etwas so Ungeheueres, dass es schon durch die Tatsache, dass es Dich nicht widerspruchslos hinnimmt, widerlegt erscheint. Nur wenn Du es mit weniger hohem Namen bezeichnen würdest, könnte man zweifeln. Aber - und hier komme ich wieder zu meiner Meinung zurück - eben weil Du es so bezeichnest, ist ein anderer Konflikt wahrscheinlicher.

    Das was Werfel sagte, ist gewiß nur flüchtig gesagt und so besonders ist er nicht organisiert, dass dort, wo bei andern Menschen etwa Verzweiflung sitzt, bei ihm Zorn säße; aber bezeichnend ist es doch, er beruft sich stillschweigend auf den Augenblick des Gedichtes, ebenso wie ich und Du und alle, so als ob hier etwas wäre, worauf man sich zu berufen hätte und wovon man nicht vielmehr den Blick abzulenken suchen sollte, dann wenn man sich zu verantworten hat. Brüderlich-verräterisch übrigens auch jenes: "nur leere Tage sind unerträglich" und schlecht zusammenstimmend mit jenem Zorn.


Franz        
 

Die "Botschaft" hegt bei. Dank für "tablettes".



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Dr. Askonas: Die Zentralgestalt in Brods Roman Das große Wagnis. (Vgl. hierzu Margarita Pazi, Fünf Autoren des Prager Kreises, Frankfurt am Main: Peter Lang 1978, S.139.)


Nornepygge: Siehe 1908 Anm.6.


Troeltsch: Siehe Anm.9 oben.


Tolstoi: Leo Tolstoi, Tagebuch. Erster Band 1895-1899, München: Georg Müller 1917. Ein Exemplar dieses Buches hatte Kafka am 17. November 1917 Felice Bauer zum Geburtstag geschenkt.


aus Deinem Roman: "Das große Wagnis".


"Entweder-Oder": Zu Kierkegaard vgl. 1917 Anm. 86.


Bubers letzte Bücher: Von Martin Buber sind im Herbst 1917 zwei Aufsatzsammlungen erschienen: Ereignisse und Begegnung und Die Rede, die Lehre und das Lied.


Kassner: Der Philosoph Rudolf Kassner (1873-1959), auf dessen Buch Melancholia, Eine Trilogie des Geistes, (Berlin: S. Fischer 1908) Kafka wohl vor allem anspielt, hatte 1906 über Kierkegaard in der Neuen Rundschau (Maiheft) geschrieben. Vgl. 1908 Anm.16.


Olga . . . Irenes: Beide Figuren aus Jüdinnen.


Die "Botschaft": "Eine kaiserliche Botschaft".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at