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[An Ottla Kafka]

[Prag,] 28. XII. [1917]
 


Liebe Ottla, heute also bringt die Post nur diesen Brief:

Eigentlich habe ich (unter dem Lärm des Felix und dem stillen Zuschauen der Gerti) weder Lust noch Ruhe zum Schreiben, vor allem deshalb aber nicht, weil sich über eine beschränkte Zeit - und so soll es doch für mich hier werden - mitten drin nichts Bestimmtes sagen läßt. Es gab z. B. in diesen letzten 5 Tagen verschiedene Zeiten, wo ich einen groben Fehler gemacht zu haben glaubte und ziemlich tief unten war, später aber zeigte es sich, dass es doch im besten Sinn richtig war und ich nichts zu bedauern hatte. über Einzelnheiten werden wir sprechen.

Die Tage mit F. waren schlimm, (abgesehen vom ersten Tag, an dem wir von der Hauptsache noch nicht gesprochen hatten) und am letzten Vormittag habe ich mehr geweint als in allen Nach-Kinderjahren. Natürlich wäre es aber viel schlimmer oder unmöglich gewesen, wenn ich irgendeinen Rest irgendeines Zweifels an der Richtigkeit desen gehabt hätte was ich tat. Derartiges gab es nicht, nur widerspricht es leider der Richtigkeit eines Handelns nicht, dass dieses Handeln ein Unrecht ist und es umsomehr wurde durch die Ruhe und besonders durch die Güte mit der sie es aufnahm.

Den Nachmittag nach ihrer Abreise war ich beim Professor, er ist verreist und kommt erst Montag oder Mittwoch; solange werde ich wohl hier bleiben müssen, schon aus diesem Grunde. Jedenfalls ging ich gleich zu Dr. Mühlstein, er erhorchte augenblicklich gar nichts, trotzdem ich hier mehr huste und schnaufe als sonst. Trotz dieses günstig-ungünstigen Befundes (das Röntgenbild würde natürlich doch die Krankheit zeigen) sprach er mir, zum Teil vielleicht aus besonderer Freundlichkeit gegen mich, die moralische Berechtigung zu, eine Pensionierung zu verlangen und als ich ihm auf seine Frage sagte, dass ich ans Heiraten nicht mehr denke, lobte er das besonders, ich weiß nicht ob als zeitweiligen oder endgültigen Entschluß, ich fragte nicht danach. (Als Auflösungsgrund der Verlobung gilt nach außen hin nur die Krankheit, so habe ich es auch dem Vater gesagt.)

Heute war ich im Bureau, die Verhandlungen beginnen; wie es ausgehen wird, weiß ich noch nicht. Zweifel gibt es auch hier für mich keine.Dagegen habe ich Zweifel wegen Oskar. Er wird mir jetzt schwer ihn mitzunehmen schwer mit jemanden außer Dir und Max zu sprechen. Das ist natürlich nur übergang und ich weiß das mit vollständiger Bestimmtheit, aber auf dem Land will ich sein und allein. Außerdem hast Du ja einen Gast und Oskar kann nicht tschechisch, auch das gibt eine Schwierigkeit. Übrigens fühle ich mich auch ein wenig ausgemietet oder richtiger: ich fühle es als einen zarten Übergang. Ganz falsch wäre es für Dich - mir muß ich es nicht erst sagen - in der weiteren Folge dessen etwas zu sehn, was für mich eindeutig trüb oder traurig wäre. Das Gegenteil wäre es viel eher; so wie es ist und zu werden scheint, ist es das beste und steht auf meinem Weg am richtigen Platz. Darüber mußt Du gar nicht nachdenken. (Übrigens bin ich gar nicht allein, denn ich habe hier einen Liebesbrief bekommen, bin aber doch allein, denn ich habe ihn nicht mit Liebe beantwortet.)

Bleibt also der Zweifel wegen Oskar. Er selbst sieht schlecht aus, braucht es dringend, demütigt sich auf alle Weise und hat es so eingerichtet, dass er, wann ich ihm meine Abreise anzeige, eine Stunde später, undzwar in der Zeit bis nächsten Freitag, reisebereit ist. Bitte, schreib mir darüber. Und sonst: Was soll ich Hr. Hermann, Frau Feigl, das Mädchen von Frau Hermann mitbringen? Und wem noch etwas?

Heute ist übrigens der erste Tag, an dem ich die Stadt fühle. Unter diesen Menschen kann nichts Gutes geschehn, aber viel Gutes für sie.

Franz


Grüße von mir das Gast-Fräulein, unser Fräulein, Toni und Hr. Hermann.




Felix: der von Hermann Kafka heißgeliebte Sohn Ellis und Karl Hermanns; Gerti war seine jüngere Schwester.


Die Tage mit F. waren schlimm: Ende Dezember war Kafka für einige Tage in Prag. Felice besuchte ihn vom 25.-27. Dezember; es war die zweite und endgültige Lösung des Verlöbnisses. Max Brod berichtet darüber: " . . . Franz (kam) zu mir ins Büro. Er hatte eben F. zur Bahn gebracht. Sein Gesicht war blaß, hart und streng. Aber plötzlich begann er zu weinen . . . Kafka . . . war direkt zu mir ins Arbeitszimmer gekommen, mitten in den Betrieb, saß neben meinem Schreibtisch auf dem Sesselchen, das für Bittsteller, Pensionisten, Beschuldigte bereitstand. Und hier weinte er, hier sagte er schluchzend: "Ist es nicht schrecklich, dass so etwas geschehen muß?" Die Tränen liefen ihm über die Wangen, ich habe ihn nie außer diesem einen Male fassungslos, ohne Haltung gesehen." (FK 147)


nach außen hin nur die Krankheit: Zu Max Brod sagte Kafka damals: "Was ich zu tun habe, kann ich nur allein tun. Über die letzten Dinge klar werden. Der Westjude ist darüber nicht klar und hat daher kein Recht zu heiraten. Es gibt hier keine Ehen. Es sei denn, dass ihn diese Dinge nicht interessieren, zum Beispiel Geschäftsleute." (FK 147)


die Verhandlungen beginnen: Nachdem es Kafka im September 1917 nicht gelungen war, sich pensionieren zu lassen (vgl. Nr. 49 und 50), versuchte er es jetzt wieder, aber auch diesmal nur mit dem Erfolg, dass sein Urlaub bis Ende April 1918 verlängert wurde. Schon am 23. November 1917 hatte Ottla in seinem Sinne bei Kafkas Dienstvorgesetzten Eugen Pfohl vorgesprochen: "Früh sprach ich mit dem Direktor des Bruders, er will absolut nicht zulassen, dass Franz kündigt, am Land soll er aber lang bleiben, eventuell solange, bis sich etwas entscheidet. Er kommt mit seiner Frau zu uns nach Zürau." (An David, vgl. Br 193, 208 und Nr. 55)


wegen Oskar: Etwa vom 6. bis zum 13. Januar 1918 war der blinde Oskar Baum, einer der engsten literarischen Freunde Kafkas, bei ihm in Zürau zu Gast. Seine 1929 erschienenen Erinnerungen an die mit Kafka verbrachten Tage sind jetzt in Max Brods Der Prager Kreis leicht zugänglich. (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz [1966], S. 130 ff., vgl. auch Br 222 ff. und die Anmerkungen zu Nr. 73)


einen Gast: Bei dem nur tschechisch sprechenden "Gast-Fräulein" handelt es sich um Josef Davids Schwester Ella, die Kafka Ende April 1918 in Zürau kennenlernte. Vgl. Nr. 57.


Hr. Hermann: Der Vorarbeiter des Gütchens, mit dem Ottla Differenzen hatte, vgl. T 530 und Ottla an David am 8. XI. 1917: "Es ist unmöglich, die Gewohnheiten eines alten Menschen abzuändern, ich finde mich mit ihm ab. Er ist besser als früher, aber ich komme noch nicht aus mit ihm."


Frau Feigl: Am 8. Oktober notiert Kafka ins Tagebuch: "Bauer F. (sieben Mädchen, eine klein, süßer Blick, weißes Kaninchen über der Achsel)" (T 535; Auflösung des Namens nach dem Manuskript).


unser Fräulein: die Magd Mařenka, die Ottla half (vgl. T 529 f. und Br 210).


Toni: ist wahrscheinlich eine weitere Helferin, die damals auf dem Gütchen beschäftigt wurde.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at