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[An Ottla Kafka: Zwei Postkarten, fortlaufend beschrieben]
Liebe Ottla, gestern war ich wieder bei ihm, er war klarer
als sonst, aber es bleibt seine oder aller Ärzte Eigentümlichkeit,
dass sie aus notwendiger Unwissenheit und weil die Frager ebenso notwendig
alles wissen wollen, entweder Wesenloses wiederholen oder in Wichtigem
sich widersprechen und weder das eine noch das andere eingestehen wollen.
Also: beide Spitzen angegriffen, aber auch hier nicht die Lunge die angeblich
frei ist, sondern die Luftröhrchen. Vorsicht notwendig, geradezu Gefahr
besteht (wegen des Alters) nicht, wird aller Voraussicht auch nicht kommen.
Rat: viel Essen, viel Luft, von Medicin wird abgesehn wegen meiner Magenempfindlichkeit:
zwei Umschläge nachts über die Achseln, monatliche Vorstellung;
sollte es nicht in einigen Monaten besser werden, wird er vielleicht (Blödsinn)
Tuberkulin injicieren "damit ich alles getan habe." Wegfahren
nach dem Süden (auf meine Frage hin) wäre natürlich sehr
gut, aber nicht notwendig; ebenso aufs Land fahren. - Vielleicht reiche
ich ein Gesuch um Pensionierung ein, es ließe sich ganz hübsch
begründen; ich werde übermorgen mit meinem Chef
(morgen hat er eine wichtige Sitzung und nur Gedanken für sie) darüber
reden.
Übrigens fällt mir jetzt so oft der Vers aus
den Meistersingern ein: "ich hätt' ihn für feiner gehalten"
oder so ähnlich. Ich meine damit: in dieser Krankheit liegt zweifellos
Gerechtigkeit, es ist ein gerechter Schlag, den ich nebenbei gar nicht
als Schlag fühle sondern als etwas im Vergleich zum Durchschnitt der
letzten Jahre durchaus Süßes, es ist also gerecht, aber so grob,
so irdisch, so einfach, so in die bequemste Kerbe geschlagen. Ich glaube
eigentlich: es muß noch einen andern Ausweg nehmen. Die Karte blieb
zurück. Inzwischen ist es ja wieder anders geworden. Auf Drängen
des Max beim Professor. Sagte im ganzen das Gleiche, verlangte
aber bestimmter Landaufenthalt. Bitte morgen umPensionierung oder 3 Monate
Urlaub. Willst Du mich aufnehmen und kannst Du es? Leicht ist es nicht.
Franz
Kafka schrieb zunächst am 4. September bis zum Ende des vorletzten
Abschnitts, der sich schon vollständig auf der von ihm mit 2) bezeichneten
Karte findet, schickte diese Karte allein weg (Stempel: Prag - 4. IX. 17)
und ergänzte auf der zurückgebliebenen am folgenden Tag (vgl.
das "morgen" gegen Ende mit dem vorhergehenden "übermorgen"
und Nr. 49) den Schlußteil, dabei setzte er den vorletzten Abschnitt
mithilfe von durchgehenden Querstrichen vom Kontext ab. Diese zweite Karte
ist von der Post erst am 5. September gestempelt worden.
klarer als sonst: Vgl. Nr. 45, 96 M 24 ("die
Ärzte sind dumm oder vielmehr . . . ihre Prätentionen sind lächerlich")
und einen an Max Brod gerichteten Brief Kafkas vom 22. September 1917,
in dem er über Dr. Mühlsteins Diagnose schreibt: "Nach
der ersten Untersuchung war ich fast ganz gesund, nach der zweiten war
es sogar noch besser, später ein leichter Bronchialkatarrh links,
noch später "um nichts zu verkleinern und nichts zu vergrößern"
Tuberkulose rechts und links, die aber in Prag und vollständig und
bald ausheilen wird, und jetzt schließlich kann ich einmal, einmal
Besserung sicher erwarten. Es ist, als hätte er mir mit seinem großen
Rücken den Todesengel, der hinter ihm steht, verdecken wollen und
als rücke er jetzt allmählich beiseite. Mich schrecken (leider?)
beide nicht." (Br 168; die zuletzt erwähnte Prognose gab der
Arzt schriftlich ab, nachdem Kafka ihm ein Gutachten Prof. Picks zur Kenntnis
gebracht hatte, vgl. Nr. 49)
mit meinem Chef: Wie immer, wenn Kafka diesen Ausdruck
gebraucht, ist der Oberinspektor Eugen Pfohl gemeint (vgl. F 214 und 649),
der Vorstand des Ressorts der Anstalt, das 1910 durch Zusammenlegung der
versicherungstechnischen Abteilung, der Unternehmensliquidatur und der
Kontrollabteilung entstanden war (D 70). Kafka, der ihn sehr bewunderte
(vgl. T 41 und F 196), war sein wichtigster Mitarbeiter und vertrat ihn
gewöhnlich, wenn er abwesend war. (Vgl. F 143, 161, 337 f. und die
Anmerkungen zu Nr. 49)
der Vers: In der 4. Szene des zweiten Aktes von
Richard Wagners Meistersingern sagt Eva, die Hans Sachs vergeblich
über die letzten, sie betreffenden Ereignisse auszuhorchen versucht
hatte, zu diesem:
Ihr wißt nichts? Ihr sagt nichts? Ei, Freund Sachs,
jetzt merk' ich wahrlich: Pech ist kein Wachs.
Ich hätt' Euch für feiner gehalten.
Der Sachverhalt auch in FK 144.
beim Professor: Friedel (d. i. Gottfried) Pick (1867-1926)
war Professor für innere Medizin und Direktor des laryngologischen
Instituts der Deutschen Universität Prag. Brod schrieb damals ins
Tagebuch: "4. September. Nachmittag mit Kafka bei Professor Friedl
Pick. So lange brauchte es, um das durchzusetzen. Konstatiert Lungenspitzenkatarrh.
Urlaub drei Monate nötig. Es ist Gefahr Tuberkulose." (FK 144,
vgl. Br 170 f.)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at