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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla ich habe vier Möglichkeiten: Wolfgang am See (schönes
und fremdes Land, aber weit und schlechtes Essen) Radesowitz (schöner
Wald, erträgliches Essen, aber doch zu bekannt, zu
wenig Fremde, zu bequem) Landskron (gänzlich unbekannt, angeblich
schön, angeblich gutes Essen, aber auf Protektion meines Chefs angewiesen
und auch sonst mit einer amtlichen Unannehmlichkeit verbunden) schließlich
Zürau (nicht fremd, nicht eigentlich schön, aber mit Dir und
vielleicht Milch.) Nun habe ich allerdings noch keinen Urlaub, will auch
mit dem Direktor, der mir schon bei der Budapester Reise Schwierigkeiten
gemacht hat, nicht mehr sprechen, habe aber für ein Urlaubsgesuch
ein schlagende Begründung. Vor etwa 3 Wochen habe ich in der Nacht
einen Blutsturz aus der Lunge gehabt. Es war etwa 4 Uhr früh, ich
wache auf, wundere mich über merkwürdig viel Speichel im Mund,
spucke es aus, zünde dann doch an, merkwürdig, es ist ein Patzen
Blut. Und nun beginnts. Chrlení, ich weiß
nicht, ob es richtig geschrieben ist, aber ein guter Ausdruck ist es für
dieses Quellen in der Kehle. Ich dachte es werde gar nicht aufhören.
Wie sollte ich es zustopfen, da ich es nicht geöffnet hatte. Ich stand
auf, gieng im Zimmer herum, zum Fenster, sah hinaus, gieng zurück
- immerfort Blut, schließlich hörte es auf und ich schlief ein,
besser, als seit langem. Am nächsten Tag (im Bureau war ich) beim
Dr. Mühlstein. Bronchialkattarrh, verschreibt eine Medicin; 3 Flaschen
soll ich trinken; in einem Monat wiederkommen; wenn wieder Blut kommt,
gleich. Nächste Nacht wieder Blut, aber weniger. Wieder beim Doktor,
der mir übrigens damals nicht gefallen hat. Die Einzelnheiten übergehe
ich, es wäre zuviel. Das Ergebnis für mich: 3 Möglichkeiten,
e r s t e n s akute Verkühlung, wie
der Doktor behauptet das leugne ich; im August mich verkühlen?, da
ich doch unverkühlbar bin; hier könnte höchstens die Wohnung
beteiligt sein, die kalte, dumpfe, schlecht riechende,
z w e i t e n s Schwindsucht. Leugnet
der Dr. vorläufig. übrigens werde man ja sehn, alle Großstädter
sind tuberkulös, ein Lungenspitzenkattarrh (das ist da Wort, so wie
man jemandem Ferkelchen sagt, wenn man Sau meint) sei auch nichts so Schlimmes,
man injiziert Tuberkulin und es ist gut, d r i t t e n s:
diese Möglichkeit habe ich ihm kaum angedeutet, er hat sie natürlich
gleich abgewehrt. Und doch ist sie die einzig richtige und verträgt
sich auch gut mit der zweiten. Ich habe in der letzten Zeit wieder fürchterlich
an dem alten Wahn gelitten, übrigens war ja nur der letzte Winter
die bisher größte Unterbrechung dieses 5jährigen Leidens.
Es ist der größte Kampf, der mir auferlegt oder besser anvertraut
worden ist und ein Sieg (der sich z. B. in einer Heirat darstellen könnte,
F. ist vielleicht nur Representantin des wahrscheinlich guten Princips
in diesem Kampf) ich meine, ein Sieg mit halbweg erträglichem Blutverlust
hätte in meiner privaten Weltgeschichte etwas Napoleonisches gehabt.
Nun scheint es dass ich den Kampf auf diese Weise verlieren soll.
Und tatsächlich, so als wäre abgeblasen worden, schlafe ich seit
damals 4 Uhr nachts besser wenn auch nicht viel besser, vor allem aber
hat der Kopfschmerz,vor dem ich mir damals nicht zu helfen wußte,
gänzlich aufgehört. Die Beteiligung an dem Blutsturz denke ich
mir so, dass die unaufhörlichen Schlaflosigkeiten, Kopfschmerzen,
fiebrigen Zustände, Spannungen mich so geschwächt haben, dass
ich für etwas Schwindsüchtiges empfänglich
geworden bin. Zufällig mußte ich seit damals an F. auch
nicht schreiben, zwei lange Briefe von mir in deren einem eine nicht sehr
hübsche, fast häßliche Stelle war, sind bis heute nicht
beantwortet.Das also ist der Stand dieser geistigen Krankheit,
Tuberkulose. übrigens war ich gestern wieder beim Dr. Er hat die Lungengeräusche
(ich huste seit der Zeit) besser gefunden, leugnet noch entschiedener Schwindsucht,
ich wäre auch zu alt dazu, wird mich aber, da ich Sicherheit haben
will, (vollständige Sicherheit gibt allerdings auch das nicht) in
dieser Woche röntgenisieren und den Auswurf untersuchen. Die Wohnung
im Palais habe ich gekündigt, die Michlová
hat uns gekündigt, so habe ich gar nichts. Aber besser so, vielleicht
hätte ich in dem feuchten Häuschen gar nicht sein können.
Nur um Irma, die mich sehr bedauert hat, zu trösten, habe ich ihr
von dem Blutsturz erzählt. Sonst weiß niemand zu
hause etwas davon. Der Dr. behauptet, es bestehe vorläufig nicht
die geringste Ansteckungsgefahr. - Soll ich also kommen? Vielleicht von
morgen Donnerstag in einer Woche? Für 8-10 Tage?
aber doch zu bekannt: Vgl. die Anmerkungen zu Nr.
20.
Chrlení: bedeutet "speien, auswerfen"
(Kafka lobt die onomatopoetischen Qualitäten des Ausdrucks); ein kürzerer
Parallelbericht in M 12.
die kalte, dumpfe, schlecht riechende: Durch die
Unsicherheit dem eigenen Körper gegenüber, schreibt Kafka im
"Brief an den Vater", sei "der Weg zu aller Hypochondrie"
frei gewesen: "bis dann unter der übermenschlichen Anstrengung
des Heiraten-Wollens . . . das Blut aus der Lunge kam, woran ja die Wohnung
im Schönbornpalais . . . genug Anteil haben kann." (H 205, ähnlich
Br 401)
empfänglich geworden: "Manchmal scheint
es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt.
"So geht es nicht weiter" hat das Gehirn gesagt und nach fünf Jahren
hat sich die Lunge bereit erklärt, zu helfen." (Br 161, vgl.
M 13)
der Stand dieser geistigen Krankheit: An Felice
schrieb Kafka zum gleichen Zusammenhang: "Du bist mein Menschengericht.
Diese zwei, die in mir kämpfen . . . sind ein Guter und ein Böser
. . . Das Blut, das der Gute . . . vergießt, um Dich zu gewinnen,
nützt dem Bösen. Dort wo der Böse, wahrscheinlich oder vielleicht,
aus eigener Kraft nichts entscheidend Neues mehr zu seiner Verteidigung
gefunden hätte, wird ihm dieses Neue vom Guten geboten. Ich halte
nämlich diese Krankheit im geheimen gar nicht für eine Tuberkulose,
sondern für meinen allgemeinen Bankrott." (F 756)
Michlová: Františka Sofrová (geb.
1870), Wäscherin und Küchenhilfe im Palais Lobkowitz, gelangte
durch die Heirat mit ihrem Nachbarn Bohumil Michl auch in den Besitz von
Nr. 22, die sie Ottla vermietete. In dem ursprünglich ihr gehörigen
Häuschen (Nr. 20) lebte als Kafkas unmittelbarer Nachbar der aus Karlsbad
stammende Dr. Knoll (vgl. F 745); erst im Mai 1917 zogen dort die Eigentümer
selber ein. Vgl. die Abb. in K 80.
Sonst weiß niemand zu hause etwas davon: Vgl.
die Anmerkungen Nr. 49 und 54.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at