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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, vorläufig ist noch alles hier in beiläufiger Ordnung,
aber wie lange es noch bleiben wird, weiß man nicht; gleich kann
es ja nicht zusammenfallen, da Du es so ordentlich zurückgelassen
hast, aber vielleicht oder wahrscheinlich lockert es sich schon im Geheimen
und ich weiß es noch gar nicht. Rede ich von "allem"
so meine ich natürlich mich. Nach Deinem Weggehn war ein großer
Sturmwind im Hirschgraben, vielleicht zufällig, vielleicht
absichtlich. Gestern habe ich im Palais verschlafen; als
ich ins Haus hinaufkam, war das Feuer schon ausgelöscht und sehr kalt.
Aha, dachte ich, der erste Abend ohne sie und schon verloren.
Aber dann nahm ich alle Zeitungen und auch Manuskripte und es kam nach
einiger Zeit noch ein sehr schönes Feuer zustande. Als ich es heute
der Růženka erzählte, sagte sie: mein Fehler
wäre gewesen, dass ich keine Holzsplitter geschnitten habe, nur
so bekomme man gleich Feuer. Darauf ich hinterlistig: "Aber es ist
doch kein Messer dort." Sie unschuldig: "Ich nehme immer das
Messer vom Teller. "Darum also ist es immer so schmierig und schartig,
aber dass man Splitter machen muß, habe ich zugelernt. Den Boden
im Schloß hat sie schon sehr schön rein gemacht, Du hast also
nicht vergessen es ihr zu sagen. Dafür werde ich morgen zu erfahren
suchen, welches das beste Buch über Gemüsebau ist; wie man Gemüse
aus Schnee zieht, wird allerdings nicht drin stehn.Gestern hat sich übrigens
wie man mir erzählt hat der Vater sehr meiner angenommen. Der Rudl
Hermann (laß den Brief nicht liegen) war Mittag bei uns sich
freundschaftlich verabschieden, da er nach Bielitz fährt. Infolgedessen
wurde bei uns unter allgemeiner Beteiligung eine Narrenvorstellung gegeben.
Es gibt kaum einen Nah- und Nächstverwandten, den der Vater bei dieser
Gelegenheit nicht niedergeschimpft hätte. Der eine ist ein Defraudant,
vor dem andern muß man ausspuken (Pfui!) u.s.w. Da, sagte der Rudl,
aus diesem Schimpfen mache er sich nichts, der Vater sage ja auch seinem
eigenen Sohn: Hallunke. Da soll der Vater großartig geworden sein.
Auf ihn los, beide Arme hoch, ganz rot. R. mußte hinaus, auf der
Schwelle wollte er sich noch ein wenig halten, aber die Mutter hat ihn
noch darüber hinaus geschoben. Damit war der freundschaftliche Abschied
zuende. Da aber beide, der Vater und R. gute Leute sind, haben sie es schon
heute wahrscheinlich vergessen, was sie aber allerdings nicht hindern würde,
die Aufführung bei nächster Gelegenheit zu wiederholen. Als ich
nachhause kam, war es schon still, der Vater sagte nur, um das Zuviel an
Güte, das er für mich aufgewendet hatte, wieder auszugleichen:
"To je žrádlo. Od 12 ti se to musí
vařit. "
Ich will Dir nur noch sagen, schreib nicht zuviel. Wenn Du allgemeines
über Deine Arbeit schreiben willst, dann schreib es entweder den Eltern
oder Irma oder mir und das kann dann ganz gut für
alle gelten.
Franz
Dieser Brief ist nach Zürau (bei Saaz/Nordwestböhmen) adressiert,
wo Ottla (seit Mitte April) das landwirtschaftliche Gut ihres (als Soldat
eingezogenen) Schwagers Karl Hermann (Mann der ältesten Schwester
Elli) bewirtschaftete.
Den Entschluß, nicht mehr im väterlichen Geschäft mitzuarbeiten,
sondern in der Landwirtschaft tätig zu werden, hatte Ottla, unterstützt
von Kafka, in monatelangen Auseinandersetzungen mit dem Vater (vgl. auch
die Anmerkungen zu Nr. 38) durchsetzen können. (Vgl. KO 428 ff.)
Hirschgraben: Der heute mit Akazien bewachsene,
dem Hradschin im Norden vorgelagerte tiefe Festungsgraben (man hielt dort
früher Wild), in den man von den Häuschen der Alchimistengasse
aus sehen konnte: "Die Küche hat ein großes Fenster in
den Hirschgraben, und außer dem Gesang der Vögel hört man
gewiß nichts." (Ottla an David am 10 III. 1917)
Palais: Seit Anfang März 1917 hatte Kafka im
Schönborn-Palais in der Nähe des Hradschin eine Zwei-Zimmer-Wohnung
gemietet. (Vgl. F 749, 771, die Anmerkungen zu Nr. 34 und den Text von
Nr. 45; Abb. K 81)
und schon verloren: Vorher hatte Ottla für
das äußere Wohlbefinden des Bruders gesorgt: "Mittags
komme ich her, mache die Fenster auf, nehme die Asche heraus und heize
ein . . . Ein Fenster lasse ich, solange ich hier bin, offen, weil der
Ofen doch noch ein wenig raucht. Ich heize für den Franz, weil er
am Nachmittag herkommen will." (Ottla an David am 27. XI. 1916)
Růženka: Nach Ottlas Weggang übernahm
R., ein kleines, buckliges tschechisches Blumenmädchen, das Ottla
geistig zu fördern suchte, die Bedienung in beiden Behausungen Kafkas:
"Der Franz hat es in seiner Wohnung sehr schön und ist zufrieden
mit ihr und der Růženka. Er hatte immer Respekt vor ihr und steht
sofort auf, wenn sie ihn weckt. Sie macht alles sehr gut aus Freundschaft
zu mir und ihm, und beinahe würde sie über dem Franz mich vergessen."
(Ottla an David am 1. III. 1917, vgl. auch M 12)
Rudl Hermann: Bruder Karl Hermanns.
To je žrádlo. Od 12 ti se to musí vařit:
"Das ist ein Fressen. Seit 12 muß das gekocht werden."
Vgl. Nr. 69, H 172 und Br 397.
Irma: Vgl. Anmerkungen zu Nr. 25.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at