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[An Ottla Kafka]

[Prag, 1. Januar 1917]
 


Zuerst: Glückliches Neues Jahr allseits. Dann bitte Ottla kauf mir das Montagsblatt und die Karte zum Recitationsnachmittag Wüllner (Beamtensorge: Den Abonnenten bleibt das Bezugsrecht für ihre Plätze bis Dienstag gewahrt. Ist es also nicht vorteilhafter die Karte erst Mittwoch zu kaufen?) Wegen der Lebensmittel bemühe Dich nicht zu sehr. Ich habe jeden Abend mehr als ich aufessen kann. Nur der geistige Vorappetit ist so ungeheuer. - Sylvester habe ich gefeiert, indem ich aufgestanden bin und dem Neuen Jahr die Stehlampe entgegengehalten habe. Feurigeres kann niemand im Glase haben.

Franz




Der erwähnte Vortrag Dr. Ludwig Wüllners fand am Sonntag, dem 7. Januar 1917, im "Neuen Theater" in Prag statt und gipfelte in einer Homer-Lesung: "Der letzte Gesang der Iliade, die Bestattung Hektors, drang mit der ganzen unbändigen Kraft des unsterblichen Werkes in die Sinne der Zuhörer. Wüllner ist der ideale Homersänger. Alles an ihm verstärkt den Eindruck der Klassizität: die prachtvolle, ebenmäßige Erscheinung, die mächtige Stirn mit den grauen Haaren, der Adel der Gebärden. Rede und Gegenrede, die behagliche Schilderung, die breit hinströmende Klage formt und rundet sich ihm zu einem wundervollen Kunstwerk." (Prager Tagblatt vom 8. 1. 1917, S. 3)


allseits: Kafka denkt an Irma und Rüzenka.


Montagsblatt: fortschrittlich-liberal, erschien Montag früh als einzige Prager Zeitung.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at