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An Felice Bauer

[Zürau, 30. September oder 1. Oktober 1917]


Liebste Felice, vorgestern kam ein Brief von Dir. Wie, schon ein Brief, fragte ich mich, und las ihn lange nicht. Dann aber war es nur ein Brief vom 11. September, in dem Du unbestimmt von der Möglichkeit Deiner Reise sprachst und der nur deshalb so lange herumgewandert war, weil Du zu Flöhau Mähren statt Böhmen geschrieben hattest. Dadurch erklärt sich auch mein damaliges scheinbares Nichtantworten.

Heute aber, Sonntag, kamen Deine Briefe vom 24. und 26. Sept., sie kamen früh, ich öffnete sie nicht (auch ein fremder Brief war dabei und blieb uneröffnet), tagsüber war dann die Mutter hier (sie erzählte, sie habe Dich gefragt, ob ich schon in besserer Laune wäre und Du habest gesagt, das hättest Du nicht bemerkt), aber auch abends wollte ich die Briefe noch nicht lesen, sondern Dir zuerst zum Aufatmen, zu meinem Aufatmen einen Brief schreiben, der unabhängig wäre von dem, was in Deinen Briefen stand. Schließlich aber nahm ich die Briefe doch vor.

Es steht in ihnen, was dort stehen mußte und was mich so beschämt, wie Du es nur begreifen könntest, wenn Du nicht das tun müßtest, was Du tust, und nicht so sein müßtest, wie Du bist.

So wie Du mich diesmal gesehen hast, habe gleichzeitig auch ich mich gesehn, nur schärfer noch, seit langer Zeit und deshalb kann ich Dir den Anblick erklären:

Daß zwei in mir kämpfen, weißt Du. Daß der bessere der zwei Dir gehört daran zweifle ich gerade in den letzten Tagen am wenigsten. Über den Verlauf des Kampfes bist Du ja durch 5 Jahre durch Wort und Schweigen und durch ihre Mischungen unterrichtet worden, meistens zu Deiner Qual. Fragst Du mich, ob es immer wahrhaftig war, kann ich nur sagen, daß ich keinem Menschen gegenüber bewußte Lügen so stark zurückgehalten habe oder, um noch genauer zu sein, stärker zurückgehalten habe als gegenüber Dir. Verschleierungen gab es manche, Lügen sehr wenig, vorausgesetzt, daß es überhaupt "sehr wenig" Lügen geben kann. Ich bin ein lügnerischer Mensch, ich kann das Gleichgewicht nicht anders halten, mein Kahn ist sehr brüchig. Wenn ich mich auf mein Endziel hin prüfe, so ergibt sich, daß ich nicht eigentlich danach strebe, ein guter Mensch zu werden und einem höchsten Gericht zu entsprechen, sondern, sehr gegensätzlich, die ganze Menschen- und Tiergemeinschaft zu überblicken, ihre grundlegenden Vorlieben, Wünsche, sittlichen Ideale zu erkennen, sie auf einfache Vorschriften zurückzuführen, und mich in dieser Richtung möglichst bald dahin zu entwickeln, daß ich durchaus allen wohlgefällig würde, und zwar (hier kommt der Sprung) so wohlgefällig, daß ich, ohne die allgemeine Liebe zu verlieren, schließlich, als der einzige Sünder, der nicht gebraten wird, die mir innewohnenden Gemeinheiten offen, vor aller Augen, ausführen dürfte. Zusammengefaßt kommt es mir also nur auf das Menschengericht an und dieses will ich überdies betrügen, allerdings ohne Betrug.

Wende dies auf unsern Fall an, der kein beliebiger ist, vielmehr mein eigentlich repräsentativer Fall. Du bist mein Menschengericht. Diese zwei, die in mir kämpfen, oder richtiger, aus deren Kampf ich bis auf einen kleinen gemarterten Rest bestehe, sind ein Guter und ein Böser; zeitweilig wechseln sie diese Masken, das verwirrt den verwirrten Kampf noch mehr; schließlich aber konnte ich, bei Rückschlägen bis in die allerletzte Zeit doch glauben, daß es zu dem Unwahrscheinlichsten (das Wahrscheinlichste wäre: ewiger Kampf), das dem letzten Gefühl doch immer als etwas Strahlendes erschien, kommen werde und ich, kläglich, elend geworden durch die Jahre, endlich Dich haben darf.

Plötzlich zeigt sich, daß der Blutverlust zu stark war. Das Blut, das der Gute (jetzt heißt er uns Guter) vergießt, um Dich zu gewinnen, nützt dem Bösen. Dort wo der Böse, wahrscheinlich oder vielleicht, aus eigener Kraft nichts entscheidend Neues mehr zu seiner Verteidigung gefunden hätte, wird ihm dieses Neue vom Guten geboten. Ich halte nämlich diese Krankheit im geheimen gar nicht für eine Tuberkulose, oder wenigstens zunächst nicht für eine Tuberkulose, sondern für meinen allgemeinen Bankrott. Ich glaubte, es ginge noch weiter und es ging nicht. - Das Blut stammt nicht aus der Lunge, sondern aus dem oder aus einem entscheidenden Stich eines Kämpfers.

Dieser eine hat nun an der Tuberkulose eine Hilfe, so riesengroß etwa, wie ein Kind an den Rockfalten der Mutter. Was will der andere noch? Ist der Kampf nicht glänzend zuende gefochten? Es ist eine Tuberkulose und das ist der Schluß. Was bleibt dem andern übrig, als schwach, müde und in diesem Zustand Dir fast unsichtbar, hier in Zürau, an Deiner Schulter zu lehnen und gemeinsam mit Dir, der Unschuld des reinen Menschen, verblüfft und trostlos, den großen Mann anzustaunen, der, nachdem er sich im Besitze der Liebe der Menschheit oder der ihm zugewiesenen Stellvertreterin fühlt, mit seinen scheußlichen Gemeinheiten beginnt. Es ist eine Verzerrung meines Strebens, das doch schon an sich Verzerrung ist.

Frag nicht, warum ich eine Schranke ziehe. Demütige mich nicht so. Auf ein solches Wort hin, bin ich wieder zu Deinen Füßen. Nur sticht mir auch gleich wieder die wirkliche oder vielmehr weit vor ihr die angebliche Tuberkulose in die Augen und ich muß es lassen. Es ist eine Waffe, neben der die fast zahllosen früher verbrauchten, von der "körperlichen Unfähigkeit" bis zur "Arbeit" hinauf und bis zum "Geiz" hinunter in ihrer sparsamen Zweckhaftigkeit und Primitivität dastehn.

Im übrigen sage ich Dir ein Geheimnis, an das ich augenblicklich selbst gar nicht glaube (trotzdem mich das bei Arbeitsversuchen und beim Denken ringsum mich in der Ferne fallende Dunkel vielleicht überzeugen könnte), das aber doch wahr sein muß: ich werde nicht mehr gesund werden. Eben weil es keine Tuberkulose ist, die man in den Liegestuhl legt und gesund pflegt, sondern eine Waffe, deren äußerste Notwendigkeit bleibt, solange ich am Leben bleibe. Und beide können nicht am Leben bleiben.

Franz




Wie, schon ein Brief: Felice hatte Kafka erst jüngst, nämlich vom 20.-21. September, in Zürau besucht. Über den Abend vor Felicens Abreise vgl. den folgenden Brief und Tagebücher (21. September 1917), S. 531 f.


das Menschengericht an und dieses will ich überdies betrügen: Vgl. Tagebücher (September-Oktober 1917), S. 534f. und Brief an Max Brod von (ca. 6) Anfang Oktober 1917, Briefe, S. 177ff.



Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at