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An Felix Weltsch

[Zürau, Mitte/Ende Oktober 1917]
 

Lieber Felix, ich suche die Tage nicht aus, an denen ich Dir schreibe, aber ich bin doch heute wieder (ohne dass es immer so wäre) so kleinmütig, klotzig, schwerbäuchig, vielmehr so war ich, als der Tag auf der Höhe war, jetzt nach dem gemeinsamen Nachtmahl, Ottla ist in Prag, bin ich nicht einmal das, noch tiefer. Und nun finde ich überdies, dass nach dem heutigen großen Aufräumen, für das ich so sehr gedankt habe, der Lampenzylinder unten ein Loch bekommen hat, Luft fängt und die Flamme, selbst nachdem ich das Loch mit einem Hölzchen verdeckt habe, flackert. Vielleicht aber taugt alles das irgendwie gerade zum Briefschreiben.

Das Dorfleben ist schön und bleibt es. Ottlas Haus steht auf dem Ringplatz, schaue ich aus dem Fenster, sehe ich auf der andern Platzseite wieder ein Häuschen, aber schon dahinter ist das freie Feld. Was kann, in jedem Sinn, für das Atemholen besser sein; was mich betrifft, so schnaufe ich zwar in jedem Sinne, körperlich am wenigsten, aber anderswo wäre ich dem Ersticken nahe, was allerdings, wie ich aus aktiver und passiver Erfahrung weiß, jahrelang ausgehalten werden kann.

Meine Beziehungen zu den Menschen hier sind so locker; das ist schon gar kein Erdenleben mehr. Ich begegne z. B. heute abend auf der finstern Landstraße zwei Menschen; Männern, Frauen, Kindern, ich weiß nicht; sie grüßen, ich danke; mich haben sie vielleicht an meinem Mantelumriß erkannt, ich wußte wahrscheinlich auch bei Licht nicht, wer sie sind, jedenfalls erkenne ich sie an der Stimme nicht, das scheint bei dialektsprechenden Menschen überhaupt unmöglich zu sein. Nachdem sie mich passiert haben, dreht sich einer um und ruft: "Herr Hermann (so heißt mein Schwager, Ich habe also den Namen übernommen), habens ka Zigarette?" Ich: "Leider nein". Damit ist es vorüber; Worte und Irrtümer der Abgeschiedenen. Ich wünsche mir, so wie ich jetzt bin, nichts Besseres.

Was Du mit der "Eindrängung" des "Gegenwillens" meinst, glaube ich zu verstehn, es gehört zu dem verdammt psychologischen Theorienkreis, den Du nicht liebst, aber von dem Du besessen bist (und ich wohl auch). Die Naturtheorien haben Unrecht so wie ihre psychologischen Schwestern. Das rührt aber nicht an die Lösung der Frage, ob die Welt aus einem Punkte zu kurieren ist.

Den Schnitzervortrag hätte ich gern gehört. Was Du über Schnitzer sagst, ist sehr richtig, aber man unterschätzt doch solche Leute leicht. Er ist ganz kunstlos, daher großartig aufrichtig, daher dort, wo er nichts hat, als Redner, Schriftsteller, selbst als Denker nicht nur unkompliziert, wie Du sagst, sondern geradezu blödsinnig. Setze Dich ihm aber gegenüber, sieh ihn an, suche ihn zu überschauen, auch seine Wirksamkeit, versuche für ein Weilchen Dich seiner Blickrichtung zu nähern - er ist nicht so einfach abzutun.

"Das Buch" von mir mag wirklich wertvoll sein, ich wollte es auch lesen, es liegt irgendwo in den himmlischen Regalen. Daß aber eine 77jährige es sich zu ihrem Geburtstag schenken läßt (vielleicht von ihrem Urenkel: "Ich bin klein, mein Geschenk ist klein . . ."), dass dadurch Clemenceau'sches Familienblut in Wallung kommt, dass der Hofrat zu einem entscheidenden Urteil ohne Zeigefingerhebung sich drängen läßt (ein Umstand übrigens, der zweifellos die tiefere Verächtlichkeit beweist, welche die Sache für ihn hat), das alles - es ist zuviel, das ist der Fehler.

Vor dem Hofrat habe ich auch immer eine besondere Achtung gehabt, nicht deshalb weil ich, soweit die Erinnerung reicht, sehr schlecht bei ihm entsprochen habe, sondern weil er, zum Unterschied von den andern, die immer mit dem ganzen Gewicht ihrer Umständlichkeit auf dem Podium standen, nur eine mit fünf Strichen zu umreißende, reinliche Figur hingestellt hat, also seine wesentlichen Absichten zurückgehalten haben muß, vor denen man sich irgendwie beugte.

Drei Kurse? Hat denn die Halbtag-Woche überhaupt für sie Platz? Das ist zu viel, das genügt ja fast zur Ausfüllung eines Gymnasialprofessorenlebens. Was sagt Max dazu?

Das Vortragsangebot, das Du den alten Schülerinnen machtest, war vielleicht etwas unpädagogisch, nämlich wirklich erschreckend, und sie haben Dich eben aus Deiner damaligen Riesengestalt mit aller Mädchenenergie zum "jungen Deutschland" zusammengedrückt, das Dir auch nicht immer so fremd ist, wie Du unter dem Zwange klagst. Übrigens beginnt im nächsten Monat eine Zeitschrift "Das junge Deutschland", vom Deutschen Theater herausgegeben, von Kornfeld redigiert.

Und "der Mensch" Zwar etwas lang- und widerhaarig angezeigt, aber doch vielleicht eine gute Sache. Du erwähnst es gar nicht. - Dir und der Frau viele Grüße.

Franz


[Randbemerkung:] Von Wolff laß Dich nicht abschrecken, er muß sich zieren. Was rennt nicht alles gegen ihn an! Er kann nicht imstande sein, Unterscheidungen zu machen.




Hofrat: Der bereits erwähnte Professor Zuckerkandl, ein weitläufiger Verwandter Clemenceaus. Felix Weltsch hatte Kafka am 17. Oktober 1917 geschrieben: "Ein Gespräch mit dem Hofrat Zuckerkandl über - Dich. Er hat Dich als Dichter in den Himmel gehoben. Seine Schwiegermutter hat in einem Kurort von einer befreundeten Dame von einem Dichter Franz Kafka gehört, in den man unbedingt eingetreten sein muß. Sie wünschte sich das Buch und bekam es. So las auch der Hofrat vier Seiten und war begeistert: >Ich muß ihn doch kennen, wenn er unser Doktor ist<."


Kornfeld: Der Prager Dramatiker Paul Kornfeld.


Der Mensch: Monatsschrift, herausgegeben von Leo Reiss. Brünn, 1918/19.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at