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An Felix Weltsch

[Zürau, Mitte Oktober 1917]
 

Lieber Felix, nur kurz zum Beweis des Eindrucks, den Deine Kurse auf mich machen, ein heutiger Traum: Es war großartig, d. h. nicht mein Schlaf (der eher sehr schlecht war, wie überhaupt in letzter Zeit; sollte ich abnehmen und der Professor nimmt mich von Zürau weg - was tue ich?) auch nicht der Traum, aber deine Tätigkeit darin.

Wir trafen uns auf der Gasse, ich war offenbar eben nach Prag gekommen und sehr froh, Dich zu sehn; etwas merkwürdig mager, nervös und professorenhaft-verdreht (so geziert-gelähmt hieltest Du Deine Uhrkette) fand ich Dich allerdings. Du sagtest mir, Du gehest in die Universität, wo Du eben einen Kurs abhältst. Ich sagte, ich ginge ungemein gerne mit, nur müsse ich für einen Augenblick in das Geschäft, vor dem wir gerade standen (es war etwa am Ende der Langengasse gegenüber dein großen Wirtshaus, das dort ist). Du versprachst, auf mich zu warten, aber während ich drin war, überlegtest Du es Dir und schriebst mir einen Brief. Wie ich ihn bekam, weiß ich nicht mehr, aber ich sehe noch die Schrift jenes Briefes. Es hieß darin unter anderem, der Kurs beginne um 3 Uhr, Du könntest nicht länger warten, unter Deinen Zuhörern sei auch Prof. Sauer, den dürftest Du durch Zuspätkommen nicht verletzen, viele Mädchen und Frauen kämen hauptsächlich seinetwegen zu Dir, bliebe er aus, blieben mit ihm Tausende aus. Also müßtest Du eilen.

Ich kam aber rasch nach, traf Dich in einer Art Vorhalle. Irgendein auf dem davor hegenden wüsten freien Feld ballspielendes Mädchen fragte Dich, was Du jetzt machen wirst. Du sagtest, Du hieltest jetzt einen Kurs ab, und nanntest genau, was dort gelesen wird, zwei Autoren, Werke und Kapitelnummer. Es war sehr gelehrt, ich habe nur den Namen Hesiod behalten. Von dem zweiten Autor weiß ich nur, dass er nicht Pindar hieß, sondern bloß ähnlich, aber viel unbekannter, und ich fragte mich, warum Du nicht "wenigstens" Pindar liest.

Als wir eintraten, hatte die Stunde schon begonnen, Du hattest sie wohl schon auch eingeleitet und warst nur hinausgegangen, um nach mir zu sehn. Oben auf dem Podium saß ein großes starkes, frauenhaftes, unhübsches, schwarzgekleidetes, knollennasiges, dunkeläugiges Mädchen und übersetzte Hesiod. Ich verstand gar nichts. Jetzt erinnere ich mich, nicht einmal im Traum wußte ichs : Es war die Schwester von Oskar, nur ein wenig schlanker und viel größer.

Ich fühlte mich (offenbar in Erinnerung an Deinen Zuckerkandl Traum ganz als Schriftsteller, verglich mein Unwissen mit den ungeheuren Kenntnissen dieses Mädchens und sagte zu mir öfters: "kläglich - kläglich!"

Professor Sauer sah ich nicht, aber viele Damen waren da. Zwei Bänke vor mir (diese Damen saßen auffallender Weise mit dem Rücken zum Podium) saß Frau G., sie hatte lange Ringellocken und schüttelte sie, neben ihr war eine Dame, die Du mir als die Holzner (sie war aber jung) erklärtest. In der Reihe vor uns zeigtest Du mir die andere ähnliche Schulinhaberin aus der Herrengasse. Alle diese also lernten von Dir. Unter andern sah ich noch in der andern Bankabteilung Ottla, mit der ich kurz vorher Streit wegen Deines Kurses gehabt hatte (sie hatte nämlich nicht kommen wollen und nun war sie also zu meiner Befriedigung doch und sogar sehr bald gekommen).

Überall, auch von denen, welche nur schwätzten, wurde von Hesiod gesprochen. Eine gewisse Beruhigung war es für mich, dass die Vorleserin bei unserm Eintritt gelächelt hatte und sich unter dem Verständnis der Zuhörerschaft noch lange nicht vor Lachen fassen konnte. Dabei hörte sie allerdings nicht auf, richtig zu übersetzen und zu erklären.

Als sie mit ihrer Übersetzung fertig war und Du den eigentlichen weitem Vortrag beginnen solltest, beugte ich mich zu Dir, um aus Deinem Buch mitzulesen, sah aber zu meinem größten Erstaunen, dass Du nur eine zerlesene schmutzige Reclamausgabe vor Dir hattest, den griechischen Text hattest Du also - erhabener Gott! "inne". Dieser Ausdruck kam mir aus Deinem letzten Brief zu Hilfe. Jetzt aber - vielleicht weil ich einsah, dass ich unter diesen Umständen der Sache nicht weiter folgen könne - wurde das Ganze undeutlicher, Du nahmst ein wenig das Aussehn eines meiner früheren Mitschüler an (den ich übrigens sehr gern gehabt hatte, der sich erschossen hat und der, wie mir jetzt einfällt, auch eine kleine Ähnlichkeit mit der vorlesenden Schülerin gehabt hat), also Du verändertest Dich und es begann ein neuer Kurs, weniger detailliert, ein Musikkurs, den ein kleiner schwarzer rotbackiger junger Mann leitete. Er war einem entfernten Verwandten von mir ähnlich, welcher (bezeichnend für meine Stellung zur Musik) Chemiker und wahrscheinlich verrückt ist.

Das war also der Traum, bei weitem der Kurse noch nicht würdig, ich lege mich jetzt zu einem vielleicht noch eindringlicheren KursTraum nieder.

Franz




Prof. Sauer: Der Literarhistoriker August Sauer.


Zuckerkandl: Ordinarius für Nationalökonomie an der Prager Universität.


Holzner: Lydia Holzner, Leiterin eines Mädchenbildungsinstitutes in Prag.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at