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An Oskar Baum
Lieber Oskar, die Reise hierher ist erstaunlich einfach, man fährt
nach Michelob, und zwar vor sieben Uhr früh vom Staatsbahnhof mit
dem Schnellzug und ist nach neun Uhr hier, oder um zwei Uhr mit dem Personenzug
und kommt um halb sechs abends an. Auf telegraphische Verständigung
hin wird man von uns mit unsern Pferden abgeholt und ist in etwa einer
halben Stunde in Zürau. Die Reise kann sowohl als Tagesausflug gemacht
werden (Ankunft in Prag vor 10 Uhr abends) oder für länger, denn
in meinem Zimmer sind zwei ausgezeichnete Nachtlager, ich schlafe indessen
in einem andern Zimmer, das so gut ist, dass ich es zu meiner ständigen
Wohnung machen würde, wenn es einen Ofen hätte. Auch für
Milch und Zugehör wäre genügend vorgesorgt und selbst für
ein wenig Fortzutragendes.
Trotzdem - ich kann Euch nicht mit freiem Herzen raten, zu kommen. In der
ersten Woche, vielleicht auch noch in der zweiten, war es anders, ich hätte
Euch alle hier haben wollen, und wenn ich nicht jeden Einzelnen um den
Besuch gebeten habe, so nur deshalb, weil es mir einerseits selbstverständlich
schien, dass ihr alle kommen müßtet, und andrerseits die
Post, die hier die Gestalt eines launischen unzuverlässigen Burschen
hat, einen viel zu langen Weg macht (Zürau-Prag-Zürau = 8 Tage
oder überhaupt nicht), um so dringende Nachrichten austragen zu können.
- Jetzt aber, in der dritten Woche, wird es hier anders und ich wüßte
nichts, was verdienen würde, dass man dazu einlädt. Für
mich bleibt Zürau allerdings das alte und ich gedenke mich hier so
festzubeißen, dass man zuerst mein Gebiß wird überwältigen
müssen, ehe man mich fortbringt (nein, das ist übertrieben und
ich hatte nicht den ganzen Überblick, als ich das schrieb). Immerhin
für mich ist es hier gut, sonst aber gibt es einiges, was niemandem,
selbst Euch, die Ihr so willig seid, gefallen könnte, unter anderem
ich selbst oder vielleicht gar nicht "unter anderem", sondern
nur ich selbst. Und so bitte ich Euch, zu denen ich offen sprechen darf,
fast so herzlich, wie ich Euch früher gebeten hätte zu kommen:
kommt jetzt nicht.
Das hat natürlich nichts mit meiner ärztlich bewilligten Krankheit
zu tun. Ob es mir besser geht als früher, weiß ich gar nicht,
d. h., es geht mir so gut wie früher, ich hatte bisher kein Leiden,
das so leicht zu tragen und so zurückhaltend gewesen wäre, es
müßte denn sein, dass gerade dies verdächtig scheinen
könnte, was es ja vielleicht auch ist. Ich sehe so gut aus, dass
mich die Mutter, die Sonntags hier war, auf dem Bahnhof gar nicht erkannte
(nebenbei: meine Eltern wissen von der Tuberkuiose nichts; nicht wahr,
Ihr seid vorsichtig, wenn Ihr zufällig mit ihnen zusammenkommen solltet),
in vierzehn Tagen habe ich eineinhalb Kilogramm zugenommen (morgen wird
zum dritten Mal gewogen) und schlafe sehr verschiedenartig, aber der Durchschnitt
ist nicht der schlimmste. - Übrigens komme ich nächstens (ich
sage "nächstens" und meine "Ende des Monats",
ein solcher Herrscher über die Zeit bin ich geworden) nach Prag und
Ihr werdet alles, das Schlechte und das Gute, selbst überprüfen
können.
Von dem neuen Rezept, das Ihr uns so freundlich einschickt, sind wir beschämt.
Auch diese Sache hat eine Zürauer Entwicklung durchgemacht. Zuerst
war man entzückt und das Fehlen der Korke und der Korkmaschine schien
ein ganz unwesentliches Hindernis. Dann hat sich das Entzücken verloren
und es ist mir die Überzeugung geblieben, dass die Korke und
die Korkmaschine auf keine Weise zu beschaffen sein werden. Jetzt schreibt
Ihr, dass man die Flaschen auch versiegeln kann. Das könnte die
Sache wieder ein wenig beleben. Doch ist allerdings jetzt gerade in der
Wirtschaft viel zu tun und Ottla ist in fortwährender großartiger
Arbeit.
Eine meiner Hauptsorgen, die sich allerdings nur in Träumen auf dem
Liegestuhl äußert, ist: wie ich Euch etwas zu essen verschaffen
könnte. Es ist leider wenig zu haben und auf dieses Wenige sind wir,
die wir weder Hühner noch Kühe noch genügend Korn haben,
angewiesen und was wir darüber hinaus an Butter und Eiern zusammenbekommen,
danach schreit die Prager Familie. Wollt Ihr Wild? Vorläufig habe
ich für Euch vier Kilogramm schönen Mehls aufgehoben, die gehören
Euch und Ihr bekommt sie spätestens, sobald ich nach Prag komme; ich
weiß, im Dunkel des kommenden Winters ist das nur ein winziges Licht.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at