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An Oskar Baum

[Zürau, Mitte September 1917]
 

Lieber Oskar, ich konnte nicht mehr kommen, nicht mehr hören. Übrigens muß man auch mit der Krankheit nicht überall herumlaufen.

Vorläufig bin ich hier sehr zufrieden und beginne mein neues Leben nicht ohne Zuversicht. Gestern saß beim ersten Mittagessen ein Gegenbild von mir an meinem Tisch. Ein wirklicher Wanderer. Ist 62 Jahre alt und wandert seit zehn Jahren. Im Gesicht über dem gepflegten Kaiserbart rein und rosig. Sieht vom Tischrand aufwärts wie ein pensionierter höherer Beamter aus. Ernährt sich seit zehn Jahren, von kleinen Arbeitspausen abgesehen, ausschließlich mit Betteln. Ist z. B. den ganzen letzten Winter gewandert, im gleichen Kleid, das er jetzt trägt (nur eine Weste, in der ihm jetzt zu warm geworden ist, hat er inzwischen verkauft) und hat kein wesentliches Rheuma, auch keine sonstige Krankheit. Nur im Kopf fühlt er in den letzten Jahren eine gewisse Unordnung. Er wird oft ohne Grund traurig, verliert alle Lust zu allem, dann weiß er nicht, was er machen soll. Ich frage ihn, ob ihm der Glaube an Gott nicht helfen kann. Nein, der kann ihm nicht helfen, im Gegenteil, daher kommt ja das Spekulieren und die Traurigkeit. Man wird zu fromm erzogen, dann macht man sich solche Gedanken. Das Hauptunglück aber ist, dass er nicht geheiratet hat. Sorgen? Ja Sorgen hätte er dann auch, aber vor allem ein Zuhause, Freude an den Kindern und Ruhe im Kopf. Er hat einigemal Gelegenheit gehabt zu heiraten, aber seine Mutter, die bis zu seinem 52. Jahr gelebt hat, hat ihm immer vom Heiraten abgeraten. Auch die zwei Schwestern und der Vater, mit denen zusammen er ein kleines Geschäft im Egerland geführt hat, haben ihm abgeraten. Und wenn alle einem abraten, verliert man die Lust. Und wenn man nicht heiratet, fängt man zu trinken an, das hat er auch gemacht. Jetzt wandert er und oft findet er gute Leute. In Böhm. Leipa z. B. hat ihm einmal vor Jahren ein Advokat (also auch ein Dr., aber im Gegensatz zu mir schon ausstudiert ) ein Mittagessen und zwei Kronen gegeben. In Zürau bei meiner Schwester war er schon vor ein paar Tagen, er ist jetzt zum zweiten Mal hergekommen, ohne es zu wollen. Er wandert ohne eigentlichen Plan (eine Karte hat er zwar, aber die Dörfer sind dort nicht angegeben), so geschieht es ihm oft, dass er im Kreis wandert. Es ist auch gleichgültig, die Leute erkennen ihn kaum jemals wieder.

Er hat einen wirklichen Beruf, der keine Zeitverschwendung erlaubt. Kaum hat er den letzten Bissen im Mund (durch Fragen bin ich ihm nicht lästig geworden, vielmehr sind wir einander meistens stumm gegenübergesessen und ich habe mein Essen vor Verlegenheit nur im Geheimen hinuntergeschluckt), steht er auf und geht. Werdet Ihr uns das Bierrezept schicken, damit wir unsern Gästenetwas Gutes vorsetzen können? Vielleicht läßt sich dann auch etwas für Euch verschaffen.

Herzliche Grüße.

Franz


Die Wohnung oben nehme ich nicht. Abgesehen davon, dass ich vorläufig keine brauche und die Zukunft unsicher ist, scheint mir die Wohnung auch zu groß, zu niedrig gelegen, zu sehr in die Straße und in Werkstätten eingebaut und zu melancholisch.




aber im Gegensatz zu mir schon ausstudiert: Kafka pflegte sein ephebenhaftes Aussehen auf solche Art zu bespötteln, tatsächlich war er damals natürlich schon längst Doktor.


etwas für Euch verschaffen: In diesem letzten Kriegswinter machte Kafka Anstrengungen, seinen Freunden in der Stadt einigen Proviant aus seinem ländlichen Wohnort zu besorgen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at