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An Oskar Baum
Lieber Oskar, ich konnte nicht mehr kommen, nicht mehr hören. Übrigens
muß man auch mit der Krankheit nicht überall herumlaufen.
Vorläufig bin ich hier sehr zufrieden und beginne mein neues Leben
nicht ohne Zuversicht. Gestern saß beim ersten Mittagessen ein Gegenbild
von mir an meinem Tisch. Ein wirklicher Wanderer. Ist 62 Jahre alt und
wandert seit zehn Jahren. Im Gesicht über dem gepflegten Kaiserbart
rein und rosig. Sieht vom Tischrand aufwärts wie ein pensionierter
höherer Beamter aus. Ernährt sich seit zehn Jahren, von kleinen
Arbeitspausen abgesehen, ausschließlich mit Betteln. Ist z. B. den
ganzen letzten Winter gewandert, im gleichen Kleid, das er jetzt trägt
(nur eine Weste, in der ihm jetzt zu warm geworden ist, hat er inzwischen
verkauft) und hat kein wesentliches Rheuma, auch keine sonstige Krankheit.
Nur im Kopf fühlt er in den letzten Jahren eine gewisse Unordnung.
Er wird oft ohne Grund traurig, verliert alle Lust zu allem, dann weiß
er nicht, was er machen soll. Ich frage ihn, ob ihm der Glaube an Gott
nicht helfen kann. Nein, der kann ihm nicht helfen, im Gegenteil, daher
kommt ja das Spekulieren und die Traurigkeit. Man wird zu fromm erzogen,
dann macht man sich solche Gedanken. Das Hauptunglück aber ist, dass
er nicht geheiratet hat. Sorgen? Ja Sorgen hätte er dann auch, aber
vor allem ein Zuhause, Freude an den Kindern und Ruhe im Kopf. Er hat einigemal
Gelegenheit gehabt zu heiraten, aber seine Mutter, die bis zu seinem 52.
Jahr gelebt hat, hat ihm immer vom Heiraten abgeraten. Auch die zwei Schwestern
und der Vater, mit denen zusammen er ein kleines Geschäft im Egerland
geführt hat, haben ihm abgeraten. Und wenn alle einem abraten, verliert
man die Lust. Und wenn man nicht heiratet, fängt man zu trinken an,
das hat er auch gemacht. Jetzt wandert er und oft findet er gute Leute.
In Böhm. Leipa z. B. hat ihm einmal vor Jahren ein Advokat (also auch
ein Dr., aber im Gegensatz zu mir schon ausstudiert )
ein Mittagessen und zwei Kronen gegeben. In Zürau bei meiner Schwester
war er schon vor ein paar Tagen, er ist jetzt zum zweiten Mal hergekommen,
ohne es zu wollen. Er wandert ohne eigentlichen Plan (eine Karte hat er
zwar, aber die Dörfer sind dort nicht angegeben), so geschieht es
ihm oft, dass er im Kreis wandert. Es ist auch gleichgültig,
die Leute erkennen ihn kaum jemals wieder.
Er hat einen wirklichen Beruf, der keine Zeitverschwendung erlaubt. Kaum
hat er den letzten Bissen im Mund (durch Fragen bin ich ihm nicht lästig
geworden, vielmehr sind wir einander meistens stumm gegenübergesessen
und ich habe mein Essen vor Verlegenheit nur im Geheimen hinuntergeschluckt),
steht er auf und geht. Werdet Ihr uns das Bierrezept schicken, damit wir
unsern Gästenetwas Gutes vorsetzen können? Vielleicht läßt
sich dann auch etwas für Euch verschaffen.
Herzliche Grüße.
Franz
Die Wohnung oben nehme ich nicht. Abgesehen davon, dass ich vorläufig
keine brauche und die Zukunft unsicher ist, scheint mir die Wohnung auch
zu groß, zu niedrig gelegen, zu sehr in die Straße und in Werkstätten
eingebaut und zu melancholisch.
aber im Gegensatz zu mir schon ausstudiert: Kafka
pflegte sein ephebenhaftes Aussehen auf solche Art zu bespötteln,
tatsächlich war er damals natürlich schon längst Doktor.
etwas für Euch verschaffen: In diesem letzten
Kriegswinter machte Kafka Anstrengungen, seinen Freunden in der Stadt einigen
Proviant aus seinem ländlichen Wohnort zu besorgen.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at