Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Frau Irma Weltsch
Liebe Frau Irma!
Ihren Brief, der erst nach unserer Abreise (wir fuhren Mittwoch Mittag
weg) ankam, habe ich erst jetzt bekommen; ich bin zwar schon gestern früh
angekommen, war aber erst heute mittag im Geschäft, wo ihn die Kusine
aufgehoben hatte. Daher also die verspätete Antwort.
Die Tasche habe ich damals, kurz nachdem ich bei Ihnen gewesen war, in
der Wohnung meiner Schwester gefunden. Unglücklich über den Verlust,
ich bin so schmerzhaft geizig, ging ich geradewegs von Ihnen in die doch
schon einmal durchsuchte Wohnung, rutschte auf den Knien systematisch jedes
Stück Bodens ab und fand schließlich die Tasche ganz unschuldig
unter einem Koffer liegen, wo sie sich klein gemacht hatte. Natürlich
war ich auf diese Leistung außerordentlich stolz und wäre schon
deshalb am liebsten gleich zu Ihnen gefahren. Aber dann mußte ich
es doch zuerst zuhause sagen, zuhause war aber wieder alle mögliche
Abhaltung, nächsten Mittag sollten wir doch wegfahren, die Meldung
bei Ihnen wurde also immer wieder verschoben, schreiben wollte ich nicht,
weil ich doch selbst zu Ihnen gehn wollte und schließlich schrieb
ich nicht einmal, weil es schon auch dafür zu spät wurde, ich
überdies Max die Meldung für Sie übergab und mir außerdem
sagte, dass Sie ebenso wie meine Braut und ich gar nicht ernstlich
daran geglaubt hatten, die Tasche könne bei Ihnen geblieben sein.
Ich hatte ja auch Ihnen gegenüber öfters gesagt, so wie es sich
auch tatsächlich verhielt, dass meine Braut überzeugt sei,
die Tasche beim Weggang aus Ihrer Wohnung noch gehabt zu haben, und dass
ich eigentlich nur aus dem formalen Grunde, nichts versäumen zu wollen,
nachfragen kam.
Das wären meine Entschuldigungen. An Zahl genug, vielleicht sogar
zu viel. Wäre nicht Ihr Brief da, würde ich mich fast schuldlos
fühlen. Da Sie nun aber offenbar auch noch weiterhin an das Täschchen
gedacht und möglicherweise es gar noch gesucht haben, sind natürlich
alle Entschuldigungen unzulänglich und ich muß mich darauf verlegen,
Sie zu bitten, mir die Freude an dem Wiederfrnden der Tasche nicht ganz
und gar dadurch zu verderben, dass Sie mir wegen meiner Nachlässigkeit
böse werden. Das wäre, trotzdem in der Tasche an 900 Kronen waren
(das erklärt die Schnelligkeit meiner ersten Mitteilung) ein ungeheuerlich
hoher Finderlohn, den ich dem glücklichen Zufall auszuzahlen hätte.
Sie tun es nicht.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Kafka
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at