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Brief an Max Brod

[Zürau, 18./19. Dezember 1917]


Lieber Max, ich hätte Dir schon längst für Esther gedankt, aber sie kam gerade in die innerlich schlimmsten Tage - auch das gibt es - die ich bisher in Zürau hatte. Es ist die Unruhe, die Wellenunruhe, die nicht aufhören wird, solange die Schöpfungsgeschichte nicht rückgängig gemacht wird. Aber es ist etwas anderes als Dein Leid, insoferne als niemand außer mir mit hineingezogen wird, es wäre denn die eine, die es vielleicht und hoffentlich allmählich zu fühlen aufhört.

    Deine Sache hat also Fortschritte gemacht in einer Richtung, wo ich kaum welche mehr erwartet hätte. Aber immer noch glaube ich, dass die Entscheidung hier weder von rechts noch links, nicht von den Frauen kommen wird. Denn wie es anderswo auch sein mag, ich sehe Dich nicht hier, nicht dort unbedingt lieben, das Negative hier jagt Dich auf und hinüber, das Negative dort jagt Dich wieder zurück, vielleicht kannst Du Dich für Ruth entscheiden, zwischen diesen beiden Frauen aber tust Du nicht so, als ob Du es könntest oder als ob es von Dir verlangt würde oder als ob es Deine Sache wäre. Das Weinen scheint nicht dem Ort zu gelten, wo Du es tust, hier weinst Du wegen jener, dort wegen dieser oder wenn auch gewiß nicht in dieser Bestimmtheit, so ruhst Du doch wohl in keiner. Könnte man das nicht so deuten, dass Du überhaupt aus diesem Kreis verwiesen wirst. Natürlich trägt diese Deutung allzusehr mein Zeichen.

    Die Frau tut Übermenschliches? Gewiß. Vielleicht nur Übermännliches, aber auch das ist natürlich übergenug.

    "Esther" habe ich Ottla in einem Zug vorgelesen (auch eine Atemleistung, nicht?). Im Ganzen hat sich der Eindruck von Prag bestätigt, also die Bewunderung eines großen Teiles des Vorspieles, fast alles dessen, was Haman gehört,


- eine wirklich große Unterbrechung, infolge deren ich das angefangene Blatt zerreiße, hauptsächlich wegen der Unterbrechung. Unser Fräulein war heute in Flöhau und bringt jetzt abend die Post, die ich sonst erst morgen bekommen hätte: Deine Geschenke überwiegen, die Drucksachensendung, die Karte, zu der sich nichts sagen läßt (Werfel bricht immer so aus und ist es bei Dir Gutsein zu mir, so gilt es gern in jeder Weise), dann Zeitung und Selbstwehr, dann ein langer Brief von meinem Oberinspektor (mit dem ich in sehr freundlicher Verbindung bin, er war auch hier zu Besuch), schließlich aber, und das ist die Unterbrechung, ein Brief von F., die ihre Ankunft für Weihnachten anzeigt, trotzdem wir vorher eindeutig über das Sinnlose, ja Böse einer solchen Fahrt uns geeinigt zu haben schienen. Aus verschiedenen des Aufzählens nicht werten Gründen werde ich deshalb wahrscheinlich, trotzdem ich erst nach Weihnachten nach Prag kommen sollte, schon diesen Samstag gegen Abend kommen.

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zurück zu Esther so gut es danach geht.

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Bewunderung des zweiten Aktes, der mich durchdringt, und des ganzen Anteiles der Juden. Alle Abneigungen gegen Kleinigkeiten, die Du kennst, blieben, da ich sie für mich begründen kann.

    Aber andererseits wußte ich auch im Voraus, dass ich das Stück anders lesen würde, als in der schlechten Unruhe in Prag. Das Ergebnis dessen aber ist, dass ich das Stück weniger gut zu verstehen glaube und dass mir gleichzeitig die Wichtigkeit des Stückes noch mehr aufgegangen ist. Ich meine damit: ich faßte es auch früher, etwa so wie man etwas am Henkel faßt, als Kunstwerk also, aber ich umfaßte es nicht und dazu reicht mein Verständnis des Stückes nicht hin. Es liegt dies vielleicht an der Grundschwierigkeit, dass etwas notwendig Unwahres dadurch gegeben ist, dass die drei Spieler Haman, König und Esther doch nur Eines sind, eine ebenso künstliche als künstlerische Dreifaltigkeit, die durch ihre ineinander sich wühlenden Teile solche Voraussetzungen, Spannungen, Durchblicke, Folgerungen entstehen läßt, die nur zum Teil, wenn auch zum größten Teil vielleicht, wahr sind oder richtiger unbedingt notwendig sind für die Geschichte der Seele. Ein Beispiel dafür, ein, eben weil ich es nicht ganz fasse, gewiß irriges Beispiel: Haman und Esther springen zu gleicher Zeit, am gleichen Abend auf, wie überhaupt etwas tief Marionettenhaftes drin verborgen ist, im ganzen Stück (in der Verzweiflung des letzten Aktes z. B. die ich in der Aufzählung meiner Stellen vergessen habe). Auch dass Haman zuschauend 7 Jahre an des Königs Tafel sitzt, ist sehr schön und sehr unmenschlich. Aber kommen sie wirklich erst an diesem Abend? Der König hat schon eine wesentliche Lebensperiode hinter sich, er hat gesündigt, gelitten, sich bezwungen und doch verloren, vielleicht liegt das alles eine Ebene tiefer als das, was jetzt geschieht, vielleicht aber ist es auch von oberster Höhe gesehn ganz das Gleiche, jedenfalls war es ohne Haman und Esther nicht möglich; die wiederholten Grottenbesuche deuten es fast an, wie ja überhaupt der König im ersten Akt schon den Schauplatz des Ganzen kennt und versteht, als wäre es ein altes vergangenes Spiel und im Abschiedsgespräch im letzten Akt in einer gewissen Undurchdringlichkeit mehr durchsprochen und durchklagt wird als bloß die Ereignisse des Stückes. Was aber in den Voraussetzungen dieser Szenen zu wenig gesagt wird, entladet sich dann wieder in der Geschichte der Jahrtausende im zweiten Akt. - Dadurch ergeben sich, glaube ich, gewisse das Kunstwerk sogar stärkende, schwer zugängliche Irrwege, die ich nicht gehn kann und die, wenn ich es genau ansehe, etwas in mir zu gehn sich weigert, weil sie ein der Kunst gebrachtes Opfer und Dein Schaden sind. Ich meine: Dein Schaden, sowie etwa in Deinem Roman (wie Du letzthin einmal schriebst), eine Dreiteilung Deines Wesens erfolgt und jeder Teil den andern bedauert und tröstet. Hier ergibt sich vielleicht ein schädigender Gegensatz zwischen Kunst und wahrer Menschlichkeit. Dort wird eine gewisse künstlerische Gerechtigkeit verlangt (die Dich z. B. den König, über den in Wahrheit längst entschieden worden ist, bis ans Ende führen und darüber hinaus in die Zukunft stoßen läßt oder die Dich z. B. dazu bringt, dass Esther, die doch die Welt trägt, im Leben des Stückes klein und unwissend - wie sie ja sein muß, wie es aber in der Perspektive des Stückes einen andern Sinn mitbekommt - neben Haman geht und sie, die Unveränderliche, durch seine Tötung sich im Wesen ändert), hier aber nur entschiedenes Dasein. -

    Zu spät und zuviel. Wir sehen uns ja bald. Über diese Dinge kann ich allerdings noch weniger sprechen als schreiben.


Franz     

[Randbemerkung:] Falle schon bestellt. - Ja, Anbruch-Adresse von Fuchs, er schrieb mir vom "miesen Anbruch", zu dem er mich hatte einladen lassen. Ich habe den Leuten schon längst - weil mir das Rundschreiben gefallen hat - aufrichtig die Nicht-Mitarbeit erklärt.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Esther: Brods Drama Eine Königin Esther (siehe Anm. 17 oben).


für Ruth: Vgl. Anm. 111 oben.


Oberinspektor: Eugen Pfohl, von dem Kafka 1911 sogar geschrieben hatte, dass er ihn "so liebte wie ein Sohn" (T 41).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at