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[Stempel: Flöhau, 24. 11. 17]

[An:] Herrn Dr Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P Flöhau


Lieber Max, viel freie Zeit, aber zum Briefeschreiben merkwürdigerweise doch nicht. Rechne es nach: Seit der Mäuseplage, von der Du vielleicht schon gehört hast (lange Unterbrechung, mußte eine Schachtel und einen Topf bemalen), habe ich eigentlich kein Zimmer. Mit der Katze, aber nur mit ihr, kann ich dort knapp übernachten, aber dort etwa zu sitzen, um einmal hinterm Korb, einmal beim Fenster es rascheln zu hören (man hört Kralle für Kralle), dazu habe ich keine Lust, aber auch die Katze, die übrigens ein äußerst gutes kindliches Tier ist, während des Schreibens oder Lesens zu überwachen, sich davor bewahren, dass sie auf den Schoß springt oder rechtzeitig mit der Asche dabei sein, wenn sie ihre vielfache Sache abtut, ist sehr umständlich; ich bin, kürzer gesagt, auch mit der Katze nicht gern allein beisammen, sind Leute dabei, verliert es fast jede Peinlichkeit, sonst aber ist es schon lästig genug, vor ihr sich auszuziehn, zu turnen, ins Bett zu gehn.

    Bleibt mir also nur das Zimmer der Schwester, ein sehr angenehmes Zimmer, der Schrecken, mit dem man es vielleicht zum erstenmal von der Schwelle überschaut (ebenerdig, vergitterte Fenster, abbröckelnde Mauer) ist ganz unberechtigt, aber Gelegenheit zum Schreiben, wenn man abend schreiben will, gibt es als gemeinsames Zimmer natürlich wenig. Bei Tag aber - die Tage sind so kurz, wenn man im Bett frühstückt, spät aufsteht und es fast um zwei Uhr in dem ebenerdigen Zimmer schon dunkel wird - bei Tag aber, es sind nicht viel mehr als drei Stunden, vorausgesetzt dass der Himmel nicht stark bewölkt ist, dann sind es noch weniger und werden in den Winter hinein noch weniger werden, liege ich entweder im Freien oder beim Fenster und lese; diese Zeit, wo man zwischen Dunkel und Dunkel aus einem Buch etwas erschnappen will (und dazwischen säubern doch auch Honved das Piavedelta, aus Tirol wird der Stoß geführt, Jaffa erobert, Hantke empfangen, Mann hat mit einer Vorlesung großen Erfolg, Essig gar keinen, Lenin heißt nicht Zederblum sondern Uljanoff u. dgl.) diese Zeit also will man nicht zum Schreiben verwenden und kaum will man nicht, ist es schon finster und man sieht nur noch die Gänse undeutlich draußen im Teich, diese Gänse, die (davon könnte ich viel erzählen) sehr widerlich wären, wenn man nicht noch widerlicher mit ihnen umgehen würde. (Heute lag eine abgeschlachtete Stopfganz draußen in der Schüssel, anzusehen wie eine tote Tante.)

    Also keine Zeit, das wäre bewiesen, bliebe noch zu beweisen, dass es so richtig ist. Es ist richtig. Ich weiß es nicht immer, das ist aber mein Fehler und ich erkenne ihn auch immer, sogar noch einen Augenblick früher, ehe ich ihn mache. Hätte ich noch die alten Prinzipien: - meine Zeit ist der Abend und die Nacht, - wäre es schlimm, besonders auch, da es mit dem Licht Schwierigkeiten gibt. Da es aber nicht mehr so ist, ich ja gar nicht schreibe, mich vor mäuseloser beleuchteter Abend- und Nachtruhe zwar nicht fürchten würde, aber auch nicht auf sie abziele, die freie Zeit vormittag im Bett, (kaum ist die Katze am Morgen weggeschafft, fängt es allerdings schon irgendwo hinterm Schrank zu kratzen an. Mein Gehör hat sich tausendmal verfeinert und ist ebensoviel unsicherer geworden, streiche ich mit dem Finger übers Leintuch, weiß ich nicht mehr ganz bestimmt, ob ich nicht eine Maus höre. Aber Phantasien sind die Mäuse deshalb nicht, mager kommt abends die Katze zu mir herein und wird am Morgen dick hinausgetragen), die paar Augenblicke beim Buch (jetzt Kierkegaard), gegen Abend ein Spaziergang auf der Landstraße, mir als Alleinsein genügen und nur immer voller erfüllt sein wollten, ist äußerlich keine Klage nötig, es wäre denn, dass es demütigend ist, umsorgt und von fremder Arbeit umgeben zu sein, während man, ohne die sichtbaren Zeichen der Krankheit zu haben, doch zu irgendwie ansehnlicher Arbeit äußerlich umfähig ist. Ich habe letzthin nur ganz wenig im Gemüsegarten zu arbeiten versucht und fühlte es nachher stark genug.

    Ottla ist in Prag, vielleicht bringt sie mir noch genauere Nachricht über den Wiener Abend. Besseres als Jugend konntest Du im Saal nicht haben. Auch ich habe ein ähnliches Vertrauen zu ihr, trotzdem ich es zu meiner Jugend gar nicht hatte und hätte es doch einfach als Jugend, als zukunftlose, lediglich junge Jugend ebenso verdient. Wie schön muß es sein, dieses Vertrauen beweisen zu können, wie Du z. B. letzthin in Komotau, wo Rührung (Du schriebst davon) durchaus meine Sache war.


Franz         

Ich merke jetzt, dass ich gestern abend alles, d. h. meine innere Situation zu leicht und leichthin gesehen habe.

Sendung 5 (Rundschau, Hiller, Marsyas) angekommen.

Was macht Oskar? Ich schreibe ihm gar nicht und er schickt mir den versprochenen Roman nicht. Aber zu Neujahr kommt Oskar für einige Tage her.

Eine Neuigkeit: den ganzen Vormittag habe ich die Ohren gespitzt und jetzt sehe ich neben der Tür ein frisches Loch. Also auch hier Mäuse. Und die Katze heute unwohl, erbricht fortwährend.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


säubern . . . Uljanof f u. dgl. : Die erwähnten Zeitungsberichte betreffen u. a. zwei auf den 17. November 1917 zu datierende Ereignisse: die Besetzung Jaffas durch die Engländer und den Empfang des Präsidenten des Berliner zionistischen Aktionskomitees Dr. Arthur Handtke durch den Außenminister Graf Czernin in Wien. Essig: Der Schriftsteller Hermann Essig (1878-1918), vgl. F 745 f.


jetzt Kierkegaard: Während der Zürauer Zeit hat sich Kafka immer intensiver mit Kierkegaards Schriften beschäftigt: siehe die folgenden Briefe. Hier bezieht er sich wahrscheinlich auf Furcht und Zittern: Kurz zuvor hatte er an Oskar Baum geschrieben: "ich kenne nur "Furcht und Zittern"" (Br 190); hinzu kommt, dass er am 24. November notiert: "Seine Antwort auf die Behauptung, er besitze vielleicht, sei aber nicht, war nur Zittern und Herzklopfen" (H 87).


den Wiener Abend: Siehe Anm. 83 oben.


Hiller: Wahrscheinlich das von Kurt Hiller herausgegebene Jahrbuch Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist, München und Berlin: Georg Müller 1916. Zu den Mitarbeitern zählten Heinrich Mann ("Geist und Tat"), Hans Blühen Max Brod ("Organisation der Organisationen"), Franz Werfel, Gustav Wyneken und Walter Benjamin.


Marsyas: Im ersten Heft (Juli/August 1917) dieser von Theodor Tagger herausgegebenen Zweimonatsschrift waren Kafkas Prosastücke "Ein altes Blatt", "Der neue Advokat" und "Ein Brudermord" erschienen. Zu Tagger (der unter dem Pseudonym Ferdinand Bruckner als Dramatiker bekannt wurde) vgl. T 533 f.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at