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[Stempel: Flöhau, 6.11.17]

[An:] Herrn Dr. Max Brod k.k. Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P Flöhau


Liebster Max, heute hatten wir Besuch, sehr gegen meinen Willen, das Bureaufräulein (nun, Ottla hatte sie eingeladen), außerdem aber als ein Mitgebrachtes noch einen Bureauherrn (Du erinnerst Dich vielleicht: wir gingen einmal in der Nacht mit irgendwelchen Gästen über den Quai, ich drehte mich nach einem Paar um, das war eben dieses), einen an sich ausgezeichneten und mir auch sehr angenehmen und interessanten Menschen (katholisch, geschieden), aber eine Überraschung, wo doch schon ein angemeldeter Besuch Überraschung genug ist. Solchen Dingen bin ich nicht gewachsen und ich durchlief von flüchtiger Eifersucht, großer Unbehaglichkeit, Hilflosigkeit gegenüber dem Mädchen (ich riet ihr, unüberzeugt, den Mann zu heiraten), bis zu vollständiger Öde den ganzen langen Tag, wobei ich noch ganz häßliche Zwischengefühle verschweige; beim Abschied war auch ein wenig Trauer, die höchste Sinnlosigkeit, irgendein Einfall des Magens oder sonst etwas. Im ganzen war es ein Besuchstag wie alle, nämlich lehrreich, eine einförmige Lehre, die man aber nicht oft genug repetieren kann.

    Ich erzähle das nur wegen einer Sache, die zu unsern Gesprächen Beziehung hat, wegen jener "flüchtigen Eifersucht". Es war der einzige gute Augenblick des Tages, der Augenblick, wo ich einen Gegner hatte, sonst war "freies Feld", fast abschüssig.

    Nach Frankfurt schicke ich nichts, ich fühle es nicht als eine Sache, die mich zu kümmern hat; schicke ich es, tue ich es nur aus Eitelkeit, schicke ich es nicht, ist es auch Eitelkeit, aber nicht nur Eitelkeit, also etwas Besseres. Die Stücke, die ich schicken könnte, bedeuten für mich wesentlich gar nichts, ich respektiere nur den Augenblick, in dem ich sie geschrieben habe, und nun soll sie eine Schauspielerin, die für ihren Vorteil viel Wirksameres finden wird, aus dem Nichts, in das sie schnell oder langsamer hinunterfallen, für einen Augenblick eines Abends hochheben? Das ist sinnlose Mühe.

    Atemnot und Husten. Du hast an sich nicht Unrecht, ich bin auch seit Prag viel aufmerksamer als früher. Es ist möglich, dass ich anderswo mehr im Freien liegen würde, stärkendere Luft hätte u. dgl., aber - und das ist für meinen Nervenzustand und dieser für meine Lungen sehr wesentlich - ich würde mich sonst nirgends so wohl befinden, nirgends so wenig Ablenkungen haben (bis auf die Besuche, aber auch diese tauchen in ihrer Vereinzeltheit in das friedliche Leben ohne allzu große Spur), nirgends mit weniger Trotz, Galle, Ungeduld die Haus- und Hotelwirtschaft ertragen als hier bei meiner Schwester. In meiner Schwester ist irgendein fremdes Element, dem ich mich in dieser Form am ehesten fügen kann. (Die "Angst um die Persönlichkeit", die Steckel einmal mir und der Unmenge ebenso Kranker nachgesagt hat, habe ich ja tatsächlich, finde es aber, selbst wenn man es nicht der "Angst um sein Seelenheil" gleichsetzt, sehr natürlich; immer bleibt doch die Hoffnung, dass man einmal "seine Persönlichkeit" brauchen oder dass sie gebraucht werden wird, dass man sie also bereit halten muß.) Nirgends nun stehe ich hinter einem mir fremden Element so fest wie hinter meiner Schwester. Hier kann ich mich fügen; dem Vater, der auf dem Boden liegt, kann ich mich fügen. (Täte es ja auch so gern dem Aufrechtstehenden gegenüber, darf es aber nicht.)

    Du hast mir 3 Stücke aus dem Roman vorgelesen. Die Musik des ersten, die starke Klarheit des dritten, gingen mir ohne weiteres glückbringend ein (im ersten fuhren einem die tatsächlichen "jüdischen Stellen" ein wenig störend über die Augen, als würden im dunklen Saal bei einzelnen Stellen alle Lichter schnell auf- und abgedreht). Wirklich stocke ich nur gegenüber dem zweiten, nicht aber wegen der Einwände, die Du erwähntest. Das Kugelspiel, ist es ein jüdisches Spiel in Deinem Sinn des Jüdischen? Jüdisch höchstens darin, dass Ruth für sich ein anderes Spiel gespielt hat, aber darum geht es doch nicht. Ist diese Strenge des Spiels eine Selbstquälerei und Quälerei des Geliebten, dann verstehe ich sie, ist sie aber selbständige Überzeugung, die keinen geraden ursächlichen Zusammenhang mit Ruths oder mit Deinen Lebensverhältnissen hat, dann ist es eine verzweifelte Überzeugung, die eigentlich nur im Traum, wie es auch geschieht, ein Palästina vor sich sehen kann. Das Ganze ist doch fast ein Kriegsspiel, aufgebaut auf der berühmten Durchbruchsidee, eine Hindenburgangelegenheit. Vielleicht mißverstehe ich Dich, aber wenn es nicht zahllose Möglichkeiten der Befreiung gibt, besonders aber Möglichkeiten in jedem Augenblick nseres Lebens, dann gibt es vielleicht überhaupt keine. Aber ich mißverstehe Dich wirklich. Das Spiel wird ja fortwährend wiederholt, durch den augenblicklichen Fehltritt ist nur der Augenblick verloren, nicht alles. Dann müßte es aber gesagt werden, schon aus krankenschwesterlicher Rücksichtnahme.


Franz        
 

Von Wolff heute Abrechnung über 102 Stück "Betrachtung" 16/17, erstaunlich viel, aber die durch Dich versprochene Abrechnung schickt er nicht, auch über "Landarzt" nichts.

Beiliegend Deine Nährpflicht-Erklärung, die Du in dem Heft vergessen hattest.

Bitte, Max, "die Jüdische Rundschau" immer schicken. - Ottla will übrigens in 14 Tagen nach Prag kommen und mich pensionieren lassen.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


das Bureaufräulein: Fräulein Kaiser (siehe WBL 173).


Schauspielerin: Leontine Sagan (siehe den vorangehenden Briefj.


Steckel: Der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel (1868-1940). In einem Brief vom 22. September 1917 nennt ihn Kafka "diesen Wiener, der aus Freud kleine Münze macht" (Br 169).


Roman: "Das große Wagnis"


das Kugelspiel: Es geht um das achte Kapitel "Roulette".


krankenschwesterlicher: Ruth, die Heldin des Romans Das große Wagnis, ist Pflegerin.


"Betrachtung": Kafkas erstes Buch ist Ende 1915 als " 2. Ausgabe" (eine Titelauflage) neu verschickt worden.


Landarzt: Das Buch Ein Landarzt. Kleine Erzählungen ist tatsächlich viel später, wahrscheinlich erst Anfang 1920 erschienen.


"die jüdische Rundschau": Jüdische Rundschau. Allgemeine Jüdische Zeitung (Berlin), war das offizielle Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Im literarischen Teil brachte sie auch Übersetzungen aus dem Hebräischen und Jiddischen. Chefredakteur des Blatts war von 1919 bis 1938 Robert Weltsch.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at