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[Zürau, abgeschickt am 13.10.1917]

[An:] Herrn Dr Max Brod Postkoncipist Prag k.k. Postdirektion

[Abs.:] Dr Kafka Zürau P Flöhau


Lieber Max, ich habe mich eigentlich immer darüber gewundert, dass Du dieses Wort: "im Unglück glücklich" für mich und andere in Dir trägst, und zwar nicht als Feststellung oder als Bedauern oder als Mahnung äußersten Falls, sondern als Vorwurf. Weißt Du denn nicht, was es bedeutet? Mit diesem Hintergedanken, der natürlich gleichzeitig das: "im Glück unglücklich" enthält, ist wahrscheinlich Kain das Zeichen aufgedrückt worden. Wenn einer "im Unglück glücklich" ist, so heißt das zunächst, dass er den Gleichschritt mit der Welt verloren hat, es heißt aber weiter, dass ihm alles zerfallen ist oder zerfällt, dass keine Stimme ungebrochen mehr ihn erreicht und er daher keiner aufrichtig folgen kann. Ganz so schlimm steht es mit mir nicht oder war es wenigstens bisher nicht; ich bin schon vom Glück und Unglück voll getroffen worden; was aber meinen Durchschnitt betrifft, so hast Du allerdings Recht, auch zum größten Teil hinsichtlich der jetzigen Zeit, nur mußt Du es in einem andern Tone sagen.

    Ähnlich wie Du zu diesem "Glück" stehst, stehe ich zu einer andern Begleiterscheinung der "überzeugten Trauer", ich meine, zur Selbstgefälligkeit, ohne die jene kaum jemals auftritt. Ich habe öfters darüber nachgedacht, letzthin nach dem Palestrina-Aufsatz von Mann in der Neuen Rundschau. Mann gehört zu denen, nach deren Geschriebenem ich hungere. Auch dieser Aufsatz ist eine wunderbare Speise, die man aber wegen der Menge der darin herumschwimmenden (beispielsweise ausgedrückt) Salus'schen Locken lieber bewundert als aufißt. Es scheint, dass, wenn man traurig ist, man, um den traurigen Anblick der Welt noch zu erhöhen, sich strecken und dehnen muß wie Frauen nach dein Bad.

    Nach Komotau komme ich natürlich. Mißverstehe nicht meine Angst vor Besuchen. Ich will nicht, dass man nach langer Reise, mit reichlichen Kosten, hierher in das herbstliche Wetter, das (dem Fremden) öde Dorf, die (dem Fremden) notwendigerweise unordentliche Wirtschaft, die vielen kleinen Unbequemlichkeiten und selbst Unannehmlichkeiten kommt, um mich aufzusuchen, mich, der einmal gelangweilt (was für mich nicht das Schlimmste ist), einmal überempfindlich ist, einmal in Angst vor einem kommenden oder ausbleibenden oder angedrohten Brief, einmal beruhigt durch einen Brief, den er geschrieben hat, einmal maßlos besorgt um sich und seine Bequemlichkeiten, einmal gelaunt, sich als das Widerlichste auszuspein und so fort in den Kreisen, die der Pudel um Faust macht. Fährst dagegen Du gelegentlich vorüber, nicht meinetwegen, sondern wegen der Komotauer, was kann ich Besseres wünschen? Übrigens wird sich der Besuch in Zürau kaum machen lassen, es müßte denn sein, dass Du in Komotau Sonntag rechtzeitig wegfahren kannst (ich kenne vorläufig die Bahnzeiten nur beiläufig), um Mittag in Zürau zu sein. Dann könntet ihr Sonntag Abend sehr bequem nach Prag fahren, über Nacht zu bleiben würde sich nicht empfehlen, da ihr Montag sehr bald fort müßtet (falls Du Mittag in Prag sein willst) und da überdies der Wagen um diese Zeit nur schwer beigestellt werden könnte, denn jetzt ist auf den Feldern viel zu tun! Übrigens werde ich wahrscheinlich mit euch nach Prag fahren, allein brächte ich es kaum zustande, schon die freundlichen Briefe aus dem Bureau und besonders die Notwendigkeit, mich im Bureau vorzustellen, schreckt mich sehr.

    Ich denke mir also die Einrichtung so, dass ich Samstag in Michelob in euren Zug steige, dass wir Sonntag gemeinsam nach Zürau fahren und abends gemeinsam nach Prag.

    Deine Begründung der Notwendigkeit, sich gesund zu machen, ist schön, aber utopisch. Das, was Du mir als Aufgabe gibst, hätte vielleicht ein Engel über dem Ehebett meiner Eltern ausführen können oder noch besser: über dem Ehebett meines Volkes, vorausgesetzt, dass ich eines habe.

    Alle guten Wünsche dem Roman. Deine kurze Erwähnung scheint Großes zu bedeuten. Er wird dazu beitragen, dass ich mich in Prag, trotz der Beschwerung durch das Bureau, auf der andern Seite doch vielleicht halbwegs im Gleichgewicht erhalte.

    Herzliche Grüße Dir und der Frau. In Kabarettstimmung bin ich allerdings nicht, war es aber auch niemals. Und sie? Für mich aber sind sogar die Kabaretts selbst von jetzt an abgeschafft. Wohin sollte ich mich, wenn die "Stimmkanonen" losgehn, mit meiner Kinderpistole von Lunge verkriechen? Allerdings bestand dieses Verhältnis seit jeher.

Franz        
 


Schreib mir, bitte, noch rechtzeitig, wann Du in K. am Sonntag fertig werden kannst, damit ich weiß, ob wir noch nach Zürau fahren, ob der Wagen uns abholen soll und wie ich mein Gepäck einzurichten habe.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Palestrina-Aufsatz: Thomas Mann, "Palestrina", Die neue Rundschau, Oktoberheft 1917, 5.1388-1402.


Salus'schen: Kafka spielt auf den Prager Dichter Hugo Salus (1866-1929) an. Vgl. PK 68-71.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at