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Brief an Max Brod

[Zürau, ca. 26. 9. 1917]


Liebster Max, beim ersten Lesen Deines Briefes war ein Berliner Unterton drin, beim zweiten aber hat er schon ausmusiciert und Du warst es. Ich habe immer gedacht, von der Krankheit werde Zeit zu reden sein, bis es Zeit sein wird, aber da Du es willst: Ich habe Messungsstichproben gemacht und bin absolut fieberfrei, es gibt also keine Kurven, auch der Professor hat doch nach dem Vorzeigen der Daten der ersten Woche vorläufig jedes Interesse an der Sache verloren. - Kalte Milch zum Frühstück. Der Professor hat (bei Verteidigungen wird mein Gedächtnis majestätisch) gesagt, die Milch solle entweder eiskalt oder heiß getrunken werden. Da warmes Wetter ist, ist doch gegen die kalte Milch nichts zu sagen, besonders, da ich an sie gewöhnt bin und unter Umständen einen ½ l kalte Milch und höchstens einen ¼ l warme vertrage. - Unabgekochte Milch. Ungelöste Streitfrage. Du denkst, die Bacillen bekämen Verstärkung, ich denke, die Sache verlaufe nicht so rechnerisch und unabgekochte Milch kräftige mehr. Aber ich bin nicht eigensinnig, trinke auch abgekochte und werde, sobald es kälter wird, nur warme oder sauere Milch trinken. - Keine Zwischenmahlzeit. Nur in der Anfangszeit, ehe die Mästung in Gang kam, oder dann, wenn ich gar keine Lust dazu habe, sonst vormittag und nachmittag ein ¼ l sauerer Milch. Noch öfters essen kann ich nicht; das Leben (im allgemeinen) ist traurig genug. - Keine Liegekur? Ich liege täglich etwa 8 Stunden. Zwar nicht auf einem eigentlichen Liegestuhl, aber auf einem Apparat, der mir bequemer ist als die vielen Liegestühle meiner Erfahrung. Es ist ein alter breiter Polsterstuhl mit davorgestellten 2 Schemeln. Diese Combination ist ausgezeichnet, wenigstens jetzt, da ich keine Decken brauche. Denn einpacken? Ich liege doch in der Sonne und bedauere, nicht auch die Hose ausziehn zu können, die während der letzten Tage mein einziges Kleidungsstück war. Ein wirklicher Liegestuhl ist schon auf dem Weg. - Zum Arzt fahren. Wann habe ich denn gesagt, dass ich nicht zum Arzt fahren werde? Ungern werde ich fahren, aber fahren werde ich. - Schnitzer - hat nicht geantwortet. - Du meinst, ich beurteile die Krankheit für die Zukunft zu schwer? Nein. Wie könnte ich das, da mir ihre Gegenwart so leicht wird und hier das Gefühl am stärksten entscheidet. Sage ich einmal etwas Derartiges, so ist es nur leere Affektation, an der ich in armen Zeiten so reich bin, oder aber es spricht dann die Krankheit statt meiner, weil ich sie darum gebeten habe. Sicher ist nur, dass es nichts gibt, dem ich mich mit vollkommenerem Vertrauen hingeben könnte, als der Tod.

    Über die lange Vorgeschichte und Geschichte von F.'s Besuch sage ich nichts, denn auch über Deine Sache stehn bei Dir nur allgemeine Klagen. Aber Klagen, Max, sind doch selbstverständlich, erst der Kern läßt sich knacken.

    Recht hast Du, dass es nur von der Perspektive abhängt, ob sich Unentschlossenheit oder etwas anderes zeigt. Auch ist man in der Unentschlossenheit immer Neuling, es gibt keine alte Unentschlossenheit, denn die hat immer die Zeit zermahlen. Merkwürdig und lieb zugleich, dass Du meinen Fall nicht einsiehst. Ich dürfte noch viel besser von F. sprechen und sollte es auch - und dieser durchaus für Lebenslänge gebaute Fall verschwände doch nicht. Andererseits aber getraue ich mich ganz und gar nicht zu sagen, ich wüßte was in Deiner Lage für mich zu tun wäre. Ohnmächtig wie der Hund, der jetzt draußen bellt, bin ich in meinem wie in Deinem Fall. Nur mit der kleinen Wärme, die ich in mir habe, kann ich beistehn, sonst nichts.

    Gelesen habe ich einiges, aber gegenüber Deinem Zustand verdient es kein Wort. Höchstens eine Anekdote aus Stendhal, die auch in der Éducation stehn könnte. Er war als junger Mensch in Paris, untätig, gierig, traurig, unzufrieden mit Paris und mit allem. Eine verheiratete Frau aus dem Bekanntenkreis des Verwandten, bei dem er wohnte, war manchmal freundlich zu ihm. Einmal lud sie ihn ein, mit ihr und ihrem Liebhaber ins Louvre zu gehn. (Louvre? ich bekomme Zweifel. Nur irgend etwas Derartiges.) Sie gingen. Als sie aus dem Louvre treten, regnet es stark, überall ist Kot, der Weg nach Hause ist sehr weit, man muß einen Wagen nehmen. In einer seiner jetzigen Laune, deren er nicht Herr ist, weigert er sich mitzufahren und macht den trostlosen Weg zu Fuß allein; ihm ist fast zum Weinen, als ihm einfällt, dass er, statt in sein Zimmer zu gehn, dieser Frau, die in einer nahen Gasse wohnt, einen Besuch machen könnte. Ganz zerstreut steigt er hinauf. Natürlich findet er eine Liebesszene zwischen der Frau und dem Liebhaber. Entsetzt ruft die Frau: "Um Gotteswillen, warum sind Sie nicht mit in den Wagen gestiegen?" Stendhal rennt hinaus. - Im übrigen hat er das Leben gut zu führen und zu wenden verstanden.


Franz        
 

Nächstens bitte schreib vor allem von Dir.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Anekdote aus Stendhal: Die betreffende Stelle findet sich am Ende des 39. Kapitels von Stendhals autobiographischem Werk Vie de Henry Brulard. Louvre? : Bei Stendhal "le Musee". Stendhal rennt hinaus: Bei Stendhal "Je disparus au bout de dix minutes".


Éducation: Flauberts L'Éducation sentimentale.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at